Nehammer in Kiew eingetroffen

Über den Landweg reiste Karl Nehammer mit großer Delegation in der Nacht auf Samstag nach Kiew.
Nach einer 14- stündigen Reise erreichte die Delegation von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) am Samstagmittag Kiew. Von Wien aus war der Kanzler Freitagabend nach Südostpolen geflogen und gegen Mitternacht in der Stadt Przemysl in einen Sonderzug gestiegen. Von dort war Freitagnacht auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit EU-Außenbeauftragtem Josep Borell und dem slowakischen Ministerpräsidenten Eduard Heger nach Kiew aufgebrochen.
Die nächtliche Zugfahrt fand unter strengen Sicherheitsauflagen statt. So verließ der Zug nach der westukrainischen Stadt Lemberg die Hauptverkehrsroute und fuhr auf einer Alternativroute durch kleine Dörfer nach Kiew. Nehammer ist der erste westliche Regierungschef, der mit großer Delegation nach Kiew fährt.
Begleitet wird er vom ukrainischen Botschafter in Wien, Wassyl Chymynez, der österreichischen Botschafterstellvertreterin in der Ukraine (die ihren Sitz seit Kriegsbeginn von Kiew ins westliche Ushgorod verlegt hat), fünf Mitarbeitern des Bundeskanzleramts, sowie mehreren Sicherheitsbeamten. Auch 20 Journalisten – darunter die Kleine Zeitung – sind dabei.
Gespräche mit Selenskyj und Klitschko
Für den Nachmittag ist ein Vieraugen-Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit anschließender Pressekonferenz geplant. Danach trifft Nehammer den ukrainischen Premierminister Denys Schmyhal und den Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko. Zu Klitschko hat Nehammer, der ebenfalls boxt, einen direkten Draht. Die bisher aus Österreich an die Ukraine gelieferten Schutzwesten und Helme wurden auf Bitte von Klitschko geschickt.

Außerdem plant Nehammer einen Besuch im Kiewer Vorort Butscha, wo an der Zivilbevölkerung begangene Massaker, die vor einer Woche öffentlich wurden, für weltweites Entsetzen sorgten. Bei einem Telefonat vergangenen Montag hatte Selenskyj die Einladung an Nehammer ausgesprochen.
Bei dem Besuch der österreichischen Delegation geht es darum, ein sichtbares Zeichen der Solidarität mit Kiew zu setzen: “Entscheidend ist die sichtbare Anerkennung der ukrainischen Staatlichkeit, der Unabhängigkeit und der politischen Führung”, so Nehammer. Außerdem sollen weitere humanitäre Hilfsleistungen und insbesondere finanzielle Unterstützung beim Wiederaufbau zugesagt werden. Im Gespräch sind weiter Lieferungen von Treibstoff, aber auch Rettungs- oder Feuerwehrfahrzeuge aus Österreich.
Dass Moskau mit Maßnahmen auf den österreichischen Besuch in Kiew reagiert, erwartet Nehammer nicht: “Wir hatten seit Kriegsbeginn eine andere Positionierung als die, die sich Russland vorstellt”, sagt er. Nehammer rechnet allerdings damit, dass als Reaktion auf die Ausweisung von russischen Diplomaten aus Österreich im Gegenzug auch österreichische Diplomaten aus Russland ausgewiesen werden.
Hilfe und Sanktionen nach mutmaßlichen Kriegsverbrechen
“Österreich will damit seine Solidarität zeigen, es wurden bereits 17,5 Millionen Euro, in Form von Schutzhelmen oder Medikamenten, zur Verfügung gestellt. Natürlich steht auch Butscha am Programm, dort bringt die Ukraine jetzt jeden europäischen Politiker hin”, äußert sich Korrespondent Christian Wehrschütz im “Ö1-Morgenjournal” zum Besuch von Nehammer.
Am Freitag waren EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Außenbeauftragte Josep Borrell zu Präsident Selenskyj gereist. Dabei wurde unter anderem vereinbart, die Vertretung der Europäischen Union wieder zu öffnen. Als Reaktion auf die Ermordung Hunderter Zivilisten in Butscha soll es auch ein fünftes EU-Sanktionspaket gegen Russland gaben.
Borrell will zudem 7,5 Millionen Euro für die Ermittlungen zur Verfügung zu stellen, die die Ukraine nach den mutmaßlichen Kriegsverbrechen in der Kiewer Vorstadt Butscha und an anderen Orten – etwa in Stojank und Irpin – durchführt. Russland weist die Vorwürfe stets zurück.
Kurz vor der Ankunft der EU-Delegation in Kiew waren am Freitag auf dem Bahnhof der ostukrainischen Stadt Kramatorsk Raketen eingeschlagen und hatten dort rund 50 Menschen getötet, die sich wegen des Krieges in Sicherheit bringen wollten. Darunter waren ukrainischen Angaben zufolge auch fünf Kinder. Moskau wies jegliche Verantwortung von sich. Die USA gehen einem Insider zufolge aber davon aus, dass der Angriff von Russland mit einer ballistischen Kurzstreckenrakete verübt wurde.
Ukrainischer Botschafter erwartet schärfere Sanktionen
Man erwartete sich als Konsequenz von Nehammers Besuch am Samstag auch eine konstruktive Rolle Österreichs bei aktuellen Sanktionsfragen in Bezug auf Russland sowie ein aktives Engagement beim Wiederaufbau des Landes, sagte am Freitagnachmittag der ukrainische Botschafter in Wien, Wassyl Chymynez.
“Die Bundesregierung und die österreichische Wirtschaft könnten sich hier in vielen Bereichen stark engagieren”, betonte der Diplomat. Viele Krankenhäuser seien zerstört worden, Brücken und Straßen müssten aufgebaut und erneuert werden, es gelte Kriegsschäden zu beseitigen sowie Menschen zu helfen, in ihr normales Leben zurückzukehren. Konkret sprach Chymynez auch davon, dass die Ukraine in den befreiten Gebieten rund um Kiew so schnell wie möglich mit dem Wiederaufbau beginnen möchte.
Die bisher in Kraft gesetzten Sanktionen der Europäischen Union (EU) seien angesichts der aktuellen russischen Kriegsverbrechen nicht adäquat, sagte der Botschafter. “Wir fordern die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, härtere Sanktionen zu beschließen”, erklärte er. Zumindest in Ölfragen erwarte er sich, dass die österreichische Seite eine konstruktive Rolle spielen werde. Erneut verwies Chymynez zudem auf die Verantwortung von europäischen und auch österreichischen Firmen, die weiterhin am russischen Markt tätig blieben.
FPÖ-Chef Herbert Kickl kritisiert Nehammers Besuch indes als “falsche” und “neutralitätsfeindliche Schwerpunktsetzung”. Der Kanzler solle sich lieber “um die aktuellen großen Probleme im eigenen Land kümmern”, so Kickl etwa mit Verweis auf die starke Teuerung.