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“Das Haus brennt, bitte schützt uns!”

02.05.2023 • 07:30 Uhr
Klima-Aktivistin Marina Hagen-Canaval. <span class="copyright">Klaus Hartinger </span>
Klima-Aktivistin Marina Hagen-Canaval. Klaus Hartinger

Marina „Mina“ Hagen-Canaval (26), Klimaaktivistin der Letzten Generation, spricht über Forderungen an die Politik, Vorurteile gegenüber Protesten und die eigene Opferbereitschaft.

Die Letzte Generation fordert politisches Handeln, es passiert aber wenig. Warum?
Hagen-Canaval: Das frage ich mich auch. Wir haben ja wirklich schon alles probiert: Gespräche, Petitionen, Demonstrationen, nichts hat gefruchtet. Meiner Meinung nach ist einer der Gründe, dass die Fossilindustrie sehr viel Macht hat. Das gilt es, zu korrigieren, damit die Politik wieder im Interesse der Bevölkerung statt in dem der Konzerne handeln kann. Die einfachste Maßnahme für den Klimaschutz wäre ja, alle neuen Öl- und Gasbohrungen zu verbieten. Einfach aufhören, zu zerstören.

Sie hatten mehrere Gespräche mit Vorarlberger Parteifunktionären. Was haben sie ergeben?
Hagen-Canaval: Unser erstes Gespräch in Vorarlberg hatten wir mit den NEOS, auf einer sehr guten Basis. Sabine Scheffknecht sagte uns, dass auch sie für Tempo 100 ist. Die Grünen wären ebenfalls dafür, auch Christina Metzler von der ÖVP sagte uns, sie hätte nichts dagegen. Michael Ritsch, SPÖ, war der erste Bürgermeister österreichweit, der sich hinter die Forderungen der letzten Generation gestellt hat. Es scheinen nur die konservativen Stimmen in der ÖVP zu sein, die eine zukunftsweisende Gesetzgebung für Vorarlberg verhindern.

Nicole Hosp, Landtagsabgeordnete der FPÖ, warf Ihnen letzte Woche „politische Erpressung“ vor.
Hagen-Canaval: Erpressung hat immer ein gewaltvolles Element, und das ist bei uns sicher nicht der Fall. Wir wollen nur, dass sich die Regierung an die eigene Verfassung sowie an die Abmachungen des Pariser Abkommens hält, dass geltende Gesetze eingehalten werden. Viel konservativer geht es nicht mehr. Uns da Erpressung vorzuwerfen, grenzt an Bösartigkeit.

Was könnte Ihrer Meinung nach insbesondere Vorarlberg anders machen?
Hagen-Canaval: Vorarlberg wäre ideal, um als Modellregion voranzugehen, gerade, was Tempo 100 betrifft. Man könnte es ja erstmal auch zeitlich begrenzen, um zu schauen, ob es funktioniert. Ganz wichtig wäre, fossile Megaprojekte wie die Tunnelspinne und die S18 zu stoppen.

Und was könnten Sie als Aktivisten besser machen?
Hagen-Canaval: Das überlegen wir immer. Wir verstehen uns als lernende Bewegung und sind uns selbst nicht sicher, ob es jetzt wirklich die Idee ist, uns auf die Straßen zu kleben, aber es fällt uns einfach nichts mehr ein. Wir sind verzweifelt. Wir wissen, dass es nervt und stört, aber wir sehen keinen anderen Weg mehr, der Politik zu sagen: „He, das Haus brennt, bitte nehmt eure Verantwortung war und schützt die Leute in Österreich!“ Wenn wir gar nichts tun, wird sich sicher nichts ändern.

Gibt es Vorurteile, mit denen Sie es öfters zu tun bekommen?
Hagen-Canaval: Ja. Man wirft uns immer vor, Menschenleben zu gefährden. Das stimmt nicht. Wir achten immer auf größtmögliche Sicherheit für alle, es gibt bei jedem Protest eine Person, die nicht angeklebt ist, so dass eine Rettungsgasse gebildet werden kann, wenn ein Einsatzfahrzeug kommt. Die Protestorte werden den Einsatzkräften im Vorhinein bekanntgegeben. Wir wollen niemandem schaden, unser Ziel ist einfach nur, den fossilen Alltag kurz zu unterbrechen.

Macht der starke Gegenwind nicht irgendwann mürbe?
Hagen-Canaval: Ja. Aber so ist es eben. Was wir tun, ist notwendig, denn die Maßnahmen, die wir brauchen, sind noch nicht da. Aus der Geschichte wissen wir außerdem, dass Menschen, die zivilen Widerstand leisten, zu ihrer Zeit immer wahnsinnig unbeliebt sind, siehe die Freedom Riders, die in den USA gegen die Rassengesetze kämpften, oder die Suffragetten. Hinterher haben sie aber immer recht bekommen – meine Hoffnung ist, dass es auch in unserem Fall so sein wird.

Es gibt aber auch Aggressionen. Sie zum Beispielwurden bereits zwei Mal während Protesten angefahren. Ist es das wert?
Hagen-Canaval: Natürlich habe ich Angst. Man kann sich nie sicher sein, was passiert. Die vor der Klimakatastrophe habe ich noch viel, viel mehr Angst. Nicht zu wissen, ob es noch genug Essen und Trinken gibt, ist schlimmer als alles, was man uns antun könnte. Wir bringen dieses Opfer und setzen uns dem aus, weil wir keinen anderen Weg mehr sehen.

Ihre Kollegin Martha Krumpeck ist wegen der Proteste im Gefängnis, eine deutsche Aktivistin ließ sich wegen dem Klima sterilisieren. Wo ist Ihre Grenze?
Hagen-Canaval: Man sollte nicht darüber urteilen, was andere Frauen mit ihrem Körper tun. Ich verstehe aber, dass man in diese Welt kein Kind setzen will. Ich möchte nicht, dass sich mein Kind um Trinkwasser und Nahrung streiten muss, aber das erwartet uns, wenn es so weitergeht. Es ist eine schwere Entscheidung. Aber grundsätzlich gibt es nichts, was mich aufhält, auch keine Geldstrafe oder ein paar Wochen Gefängnis. Letztens habe ich gesagt, erst, wenn sie die Todesstrafe einführen, sehe ich ein, dass wir nicht untertänig genug gebettelt haben.

Würden Sie sagen, dass Sie das tun – untertänig betteln?
Hagen-Canaval: Es wurde wie gesagt alles probiert. Petitionen, Gespräche, wir haben so oft gesagt, „Bitte, liebe Politiker, könnt ihr nicht eurer Verantwortung nachkommen“. Nun haben wir eben eine nervigere Protestform gewählt, aber wir betteln halt immer noch.

Wie lassen sich die zeitintensiven Proteste eigentlich mit dem Zivilberuf vereinen?
Hagen-Canaval: Ich weiß tatsächlich nicht mehr, wie ich das gemacht habe, als ich noch Vollzeit gearbeitet habe, aber es geht irgendwie. Andere engagieren sich in ihrer Freizeit im Sportverein, ich mich eben im Fortbestand unserer Lebensgrundlage. Das ist eine Frage der Prioritäten. Natürlich muss man aber abwägen, Lohnarbeit ist in unserem System unverzichtbar.

Wie viele Mitglieder gibt es derzeit in Vorarlberg?
Hagen-Canaval: Das sind um die 20, österreichweit sind es etwa 300, es gibt aber großen Zulauf. Nach den letzten Aktionen haben sich viele gemeldet und möchten mitmachen. Es gibt ja ganz viel, was man bei uns tun kann, nicht nur, sich anzukleben.

Was das Kleben angeht, besteht vielleicht auch für viele eine Hemmschwelle.
Hagen-Canaval: Absolut, es ist auch unangenehm, weil man total ausgeliefert ist. Man sitzt da und kann gegen die Aggressionen, die einem entgegenschlagen, nichts tun. Deshalb trainieren wir die Leute auch, die mit uns auf die Straße gehen. Hinsetzen, ruhig bleiben, wir sind immer gewaltfrei und friedlich. Wir schreien nicht zurück. Wenn man uns anfasst, wehren wir uns nicht, wir schützen uns aber, ziehen den Kopf ein, machen uns klein. Aber genau deshalb sind solche Stimmen wie etwa aus der FPÖ brandgefährlich, die uns als Klima-Terroristen bezeichnen. So etwas stachelt die Leute an und führt zu einem Anstieg der Gewalt. Es befeuert die Selbstjustiz, und die ist in keinem Fall angebracht.