Caritas: Ein Jahrhundert im Dienst der Nächstenliebe

Caritas-Direktor Walter Schmolly blickt im Interview mit der NEUE zurück auf 100 Jahre Caritas und spricht über aktuelle Krisen und Hoffnungen für die Zukunft.
Die Caritas feierte 2024 ihr 100-jähriges Jubiläum. Gab es besondere Anlässe?
Walter Schmolly: Ja, wir haben das Jubiläum vor allem als Gelegenheit genutzt, um Inspiration und Orientierung zu sammeln. Die Frage war: Was ist heute und in Zukunft unser Auftrag? Dafür sind wir zwei Spuren gefolgt.
Welche Spuren sind das?
Schmolly: Die erste Spur führte uns zurück zu unseren Wurzeln. Wir wollten den ursprünglichen Auftrag der Caritas neu und frisch verstehen – den Ärmsten der Armen zu helfen und den Geist der Nächstenliebe zu stärken. Die zweite Spur führte in die Zukunft. Im Dialog mit anderen gesellschaftlichen Akteuren haben wir erkundet, was die Menschen und die Gesellschaft heute und morgen benötigen und welchen Beitrag die Caritas dazu leisten kann.

In welchen Bereichen hatte die Caritas 2024 am meisten zu tun?
Schmolly: Das Jahr 2024 stand für uns unter dem Titel „Unterstützung in Krisensituationen“. Viele Menschen und Gegenden haben mit schwerwiegenden Krisen zu kämpfen: In Vorarlberg leiden beispielsweise nach wie vor viele unter der Teuerung. Bei Krisen denke ich aber auch an die Hochwasserkatastrophe in Niederösterreich oder die verheerenden Kriegsgeschehnisse in der Ukraine und im Nahen Osten. Solche Krisen beschäftigen uns aktuell sehr.
Ein großes Thema ist sicher auch die Existenzsicherung?
Schmolly: Ja, definitiv. In unseren Beratungsstellen haben wir in den ersten drei Quartalen dieses Jahres 17 Prozent mehr Hilfesuchende verzeichnet als im Vorjahr. Konkret heißt das: 5996 Menschen haben Unterstützung gesucht.
Zur Person
Name: Walter Schmolly
Geboren: 6. Februrar 1964
Caritas-Direktor seit: 2015
Ausbildung: Studien der Mathematik und der Theologie
Vorherige Berufe: Universitätsassistent (1994–1998), Leiter des Katholischen Bildungswerk Vorarlberg (1999–2005), Leiter des Pastoralamtes (2005–2015)
Hobbys: Bewegung, Lesen
Sind auch Kinder betroffen?
Schmolly: Leider ja. Der Anstieg bei den Kindern ist sogar noch dramatischer: Die Zahl der betroffenen Kinder stieg um 25 Prozent auf 2279. Besonders Mehrkindfamilien und Alleinerziehende sind unter den Hilfesuchenden stark überrepräsentiert.
Gab es positive Erlebnisse im vergangenen Jahr?
Schmolly: Die schönsten Momente erleben wir, wenn unsere Hilfe wirkt. Es ist berührend zu sehen, wie Menschen durch unsere Unterstützung gestärkt werden und wieder eigenständig ihren Weg gehen können. Ein besonderes Highlight war die Evaluierung unserer Lerncafés durch die Pädagogische Hochschule. Die Ergebnisse zeigen, wie nachhaltig unsere Lerncafés die Chancen und Entwicklung der Kinder verbessern.
Wie hat sich die Arbeit der Caritas in den 100 Jahren verändert?
Schmolly: Einerseits gibt es eine erstaunliche Kontinuität: Unsere Arbeit begann mit Obdachlosenhilfe, Hungerhilfe und Suchthilfe. In diesen Bereichen sind wir auch heute noch tätig. Zum anderen hat sich die Caritas fortlaufend weiterentwickelt, indem sie auf neue soziale Notlagen reagiert hat.

Haben Sie Beispiele?
Schmolly: Vor 60 Jahren hat die Caritas in Bludenz die erste Werkstätte für Menschen mit Beeinträchtigungen eröffnet. Seit 30 Jahren sind wir Träger der Hospizarbeit in Vorarlberg. Das sind Meilensteine, die zeigen, wie die Caritas auf gesellschaftliche Herausforderungen reagiert und sich weiterentwickelt.
Was sind die Hauptaufgaben für 2025?
Schmolly: Die zentrale Aufgabe in unserer Zeit lautet – wie es die UN-Agenda 2030 formuliert – „Niemanden zurücklassen“. Gerade in Krisen- und Veränderungszeiten müssen wir uns dafür einsetzen, dass niemand abgehängt wird.
Konkrete Schwerpunkte?
Schmolly: Ein wichtiger Schwerpunkt sind faire Chancen für alle Kinder. Jedes Kind verdient die Möglichkeit, sein Potenzial zu entfalten – unabhängig von der Ausgangssituation. Mit Angeboten wie dem „Familienhaus St. Michael“, Lerncafés und Familienhilfe schaffen wir solche Chancenräume. Es wird auch 2025 erforderlich sein, Menschen in finanziellen Notlagen aufzufangen, damit sie die Ausgaben bestreiten können. Ein weiterer Schwerpunkt wird die Förderung der Freiwilligenarbeit sein, die gerade in unsicheren Zeiten für Stabilität sorgt.
Die Landesregierung fordert Einsparungen. In welchem Ausmaß betrifft das die Caritas?
Schmolly: Es trifft uns vor allem in der Suchtarbeit und bei Angeboten für Menschen mit Beeinträchtigungen, etwa Werkstätten, Wohnassistenz und Arbeitsassistenz. Bei unseren drei Werkstätten für Menschen mit Beeinträchtigungen sollen beispielsweise über 300.000 Euro eingespart werden.
Kann die Caritas diesen Sparforderungen gerecht werden?
Schmolly: Wir prüfen natürlich jede Möglichkeit, um Einsparungen abzufedern und die Auswirkungen für unsere Klienten so gering wie möglich zu halten. Aber ganz ohne Einschränkungen wird es nicht gehen.

Haben Sie einen Appell an die Politik?
Schmolly: Mein Appell ist klar: Auch in finanziell schwierigen Zeiten darf nicht bei jenen gespart werden, die ohnehin am wenigsten haben.
Ein herausforderndes Jahr steht bevor?
Schmolly: Ja, die Zeiten sind herausfordernd. Wir stehen vor wichtigen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Weichenstellungen. Es wird entscheidend sein, dass wir als Gesellschaft „richtig abbiegen“.
Wie steht es um die Freiwilligenarbeit bei der Caritas?
Schmolly: Die Caritas lebt seit jeher von der Kraft des freiwilligen Engagements. Aktuell haben wir rund 1000 Freiwillige, die in fast allen Bereichen mitarbeiten. Es ist immer eine Herausforderung, attraktive Möglichkeiten für Engagement zu schaffen, aber im Großen und Ganzen gelingt es. Besonders freut es mich, dass auch Kinder und Jugendliche sich für soziale Themen begeistern.
Abschließend: Was wünschen Sie sich für das neue Jahr?
Schmolly: In schwierigen Zeiten besteht die Gefahr von Polarisierung, Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit. Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft zusammenhalten, füreinander da sind und hoffnungsvoll bleiben – oder, wie Papst Franziskus sagt: „Pilger der Hoffnung“ sind.
100 JAHRE CARITAS
Schon in den 1880er-Jahren entstanden in Vorarlberg die ersten Vinzenzvereine, die sich der sozialen Not in ihrer Nachbarschaft widmeten. Mit der Unterzeichnung der Gründungsurkunde der Caritas am 14. März 1924 wurde der Weg für ein vernetztes soziales Hilfswerk geebnet.
Nach dem Krieg waren die Menschen ausgezehrt, viele Heimkehrer traumatisiert. So wurde die „Trinkerhilfe“ zu einem der ersten Arbeitsschwerpunkte. Von Beginn an lag ein Fokus auf Kindern und Jugendlichen: Sie sollten ihre Potenziale entfalten können. Auch die Unterstützung von Arbeitslosen, Obdachlosen und Ortsfremden gehörte zu den zentralen Aufgaben.
Über die Jahrzehnte erweiterte sich das Spektrum der Caritas: von Familien- und Hospizarbeit über die Begleitung Langzeitarbeitsloser und Menschen mit Beeinträchtigungen bis hin zu Projekten wie dem Caritas-Café oder der Nachbarschaftshilfe für Geflüchtete.
In 100 Jahren hat sich vieles verändert, doch der Auftrag bleibt: Not sehen und handeln. Die Geschichte der Caritas ist eine Geschichte des Helfens und Miteinanders – getragen von Freiwilligen, Mitarbeitenden und Spendern, die gemeinsam eine bessere Zukunft gestalten wollen.