Ein sicherer Ort für Gewaltopfer

In Vorarlberg suchen immer mehr Missbrauchsopfer Hilfe. Sascha Schmidt, Leiter des Psychosozialen Dienstes im Krankenhaus Dornbirn, das als Schwerpunktkrankenhaus für sexualisierte Gewalt auf solche Fälle spezialisiert ist, gibt Einblick.
Im Krankenhaus Dornbirn gab es 2023 insgesamt 69 dokumentierte Fälle mit sexueller Gewalt, 2021 waren es 36. Steigt die Zahl weiter?
Sascha Schmidt: Stand Mitte November 2024 sind die Zahlen bereits höher als im gesamten Jahr 2023. Dass die Fallzahlen steigen, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass es mehr Gewaltsituationen gibt. Eine verstärkte Sensibilisierung für das Thema spielt eine entscheidende Rolle. Durch Informationskampagnen ist das Bewusstsein für sexualisierte Gewalt gestiegen, wodurch sich möglicherweise mehr Betroffene melden, um Unterstützung zu erhalten.
Warum wenden sich mehr Betroffene an das Krankenhaus Dornbirn?
Schmidt: Studien zeigen, dass Gewaltopfer sich zunächst an vertraute Personen wenden, bevor sie professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Viele Frauen kommen regelmäßig in unsere Ambulanz – manche mit sichtbaren Anzeichen von Gewalt, andere mit Verdachtsmomenten. Als Schwerpunktkrankenhaus für sexualisierte Gewalt in Vorarlberg bieten wir Schutz, vermitteln in Notunterkünfte und unterstützen Betroffene bei weiteren Schritten – etwa beim Kontakt zu Gewaltschutzzentren. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass wir die Polizei nur mit einbeziehen, wenn der Patient ausdrücklich selber Anzeige erstattet.

Gibt es in Vorarlberg ausreichend Anlaufstellen für Opfer sexualisierter Gewalt?
Schmidt: Mit dem Gewaltschutzzentrum, der Frauenberatungsstelle für sexuelle Gewalt, der Frauennotwohnung und den Krankenhäusern in allen Regionen gibt es professionelle Anlaufstellen.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen?
Schmidt: Wir stehen in engem Austausch mit anderen Krankenhäusern, der Polizei, dem Gewaltschutzzentrum, der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Frauenberatungsstelle. Schulungen für Ärzte und Pflegepersonal sowie gemeinsame Vorträge und Fortbildungen sorgen für einheitliche Standards. Das ist essenziell, um unsere Arbeit stetig zu verbessern.
Zur Person
Name: Sascha Schmidt
Geboren: 9. August 1974
Familienstand: Verheiratet, drei Kinder
Beruf: Leiter Psychosozialer Dienst im städtischen Krankenhaus Dornbirn
Ausbildung: Sozialarbeiter, Aktubetreuer KIT
Vorangegangene Stationen: Caritas, ifs, Sozialpsychiatrie
Hobbys: Wandern, lesen von Fachliteratur, Zeit mit der Familie verbringen, Reisen
Wie läuft die Betreuung von Missbrauchsopfern ab?
Schmidt: Zunächst erfolgt eine Ersteinschätzung, um die Betroffenen der jeweiligen Ambulanz zuzuweisen – sei es die Gynäkologie, Allgemeinambulanz oder Kinder- und Jugendmedizin. In einfühlsamen Gesprächen werden dann die Geschehnisse dokumentiert, forensische Untersuchungen durchgeführt und gerichtsverwertbare Beweise wie DNA-Spuren gesichert. Parallel klärt der psychosoziale Dienst über Hilfsangebote auf und vermittelt bei Bedarf an Beratungsstellen oder wenn das Opfer Anzeige erstatten will, an die Polizei.
Hat der Schutz der Opfer oberste Priorität?
Schmidt: Ja. Sollte der Täter anwesend sein, werden umgehend Schutzmaßnahmen eingeleitet. Medizinische Unterlagen unterliegen strenger Vertraulichkeit und dürfen nur mit triftigem Grund eingesehen werden. Besteht der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung, wird die Situation sorgfältig geprüft, um die notwendigen Schutzmaßnahmen einzuleiten.

Welche Herausforderungen bringt die Arbeit mit traumatisierten Menschen mit?
Schmidt: Erfahrung im Umgang mit Krisensituationen ist essenziell. Fachwissen über Traumatisierung, Stress und Kommunikation ist notwendig. Abgrenzung ist oft gefordert, doch Empathie bedeutet, sich einzufühlen und anschließend wieder Distanz zu schaffen. Meine Arbeit als Akutbetreuer im Kriseninterventionsteam hilft mir dabei.
Wie wird sichergestellt, dass Opfer anonym und geschützt Hilfe erhalten?
Schmidt: Alle Betroffenen werden anonym betreut. Ihre Akten sind nur einem eingeschränkten Personenkreis zugänglich. Falls ein Sicherheitsrisiko besteht, kann eine kurzfristige stationäre Aufnahme erfolgen.
psychosozialer dienst
Zusätzlich zur medizinischen und pflegerischen Versorgung bietet das städtische Krankenhaus Dornbirn begleitende Dienste an: Frühe Hilfe, Entlassungsmanagement und Sozialberatung, Psychosoziale Onkologie, Informationen für Gewalt-Opfer sowie Opferschutz/Gewaltschutz. Die Gewaltschutzgruppe im Krankenhaus Dornbirn umfasst unter der Leitung von Sascha Schmidt und Oberarzt Robert Peschl insgesamt 18 Personen aus der Verwaltung, Ärzteschaft, Pflege, Sozialarbeit und Radiologie. Das Krankenhaus Dornbirn ist seit 22 Jahren zentrale Anlaufstelle für sexualisierte Gewalt.
Gibt es eine bestimmte Alters- oder Geschlechtsverteilung unter den Betroffenen?
Schmidt: Hauptsächlich sind Frauen betroffen – jede dritte erlebt mindestens einmal im Leben häusliche Gewalt. Auch Kinder sind stark gefährdet. Bei Männern ist die Dunkelziffer hoch. Dies gilt aber leider für alle Opfer.
Wie lange dauert es, bis Opfer sich Hilfe suchen?
Schmidt: Das ist individuell sehr unterschiedlich. Manche melden sich nach dem ersten Vorfall, andere kommen über Jahre hinweg ins Krankenhaus, bevor sie sich zu einer Anzeige entschließen.
Welche psychischen und physischen Folgen treten häufig auf?
Schmidt: Neben körperlichen Verletzungen leiden Betroffene oft an Depressionen, Angststörungen, Schlafproblemen und posttraumatischen Belastungsstörungen.

Welche Hürden hindern Opfer daran, Hilfe zu holen?
Schmidt: Schuldgefühle, Angst vor weiterer Gewalt, Drohungen – etwa die Androhung, ihnen die Kinder zu entziehen –, sowie soziale Abhängigkeit, wirtschaftliche Not und gesellschaftliche Vorurteile.
Zahlen
69 klar dokumentierte Fälle nach sexueller Gewalt gab es im Krankenhaus Dornbirn im Jahr 2023. 2021 waren es 36. Die Zahlen für 2024 sind laut Sascha Schmidt Stand Mitte November schon höher als die aus dem Jahr 2023 gesamt.
30 Kinder wurden im Jahr 2024 insgesamt im Krankenhaus Dornbirn behandelt und betreut. 16 nach körperlicher Gewalt, elf nach sexuellem Missbrauch und drei nach Vernachlässigungen.
Wie bewerten Sie die aktuelle Gesetzeslage?
Schmidt: Einheitliche Standards im Gesundheitswesen sind ein Fortschritt. Wichtig ist, dass nicht automatisch Anzeige erstattet wird. Erwachsene Opfer können selbst entscheiden, ob sie eine Anzeige erstatten möchten – es sei denn, es besteht akute Gefahr oder es handelt sich um schutzbedürftige Personen. Diese Angst möchten wir den Betroffenen nehmen. Sie haben meist das letzte Wort. Wir dokumentieren und archivieren alle relevanten Informationen. Falls sich jemand zu einem späteren Zeitpunkt doch für eine Anzeige entscheidet, stehen die Unterlagen auch Jahre später noch zur Verfügung.