KI als Therapie? Digitaler Overkill und Demokratie versus Zensur: „Freiheit liegt zwischen Reiz und Reaktion“

Die Psychotherapeutin und Bildungswissenschafterin Helga Kohler-Spiegel spricht vor ihrem Vortrag im Bildungshaus St. Arbogast im NEUE-Interview über die Krisen unserer Zeit, den Umgang mit digitalem Druck, die Rolle von Eltern und warum Resilienz eine tägliche Aufgabe ist.
NEUE am Sonntag: Wir leben gefühlt in einer Zeit multipler Krisen – von Krieg über Inflation bis zur Klimakrise. Viele Menschen fühlen sich überfordert. Wie kann ein glückliches Leben unter solchen Umständen gelingen?
Helga Kohler-Spiegel: Indem wir uns immer wieder daran erinnern, dass wir eine Wahl haben. Viktor Frankl hat es schön formuliert: Zwischen Reiz und Reaktion liegt unser Raum der Freiheit. Diesen Raum zu entdecken und bewusst zu gestalten, ist entscheidend. Wir können wählen, welche Nachrichten wir konsumieren, ob wir das Handy ständig bei uns tragen oder einmal beiseitelegen. Resilienz – also die psychische Widerstandsfähigkeit – ist nichts Angeborenes, sondern etwas, das wir Tag für Tag üben müssen. Jeden Morgen gilt es zu entscheiden, wie wir mit der Welt umgehen.

NEUE am Sonntag: Schon Kinder erleben Leistungsdruck. Wie sehen Sie das als Psychotherapeutin?
Kohler-Spiegel: Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Sie sollen leistungsfähig sein, funktionieren, eine gute Zukunft haben. Aber man darf nicht vergessen, dass jedes Kind anders ist. Das eine ist schneller, das andere langsamer. Manchmal ist ein Kind körperlich krank, manchmal seelisch müde. Beides verdient Beachtung. Es geht darum, den Rhythmus von Ein- und Ausatmen zu wahren – für Kinder wie Erwachsene. Wir alle brauchen diesen Wechsel von Leistung und Erholung.
NEUE am Sonntag: Wie können Eltern diesem Druck entgegenwirken?
Kohler-Spiegel: Indem sie erkennen, dass auch das „Nein“ Platz hat. Es ist wichtig, Kinder ernst zu nehmen, wenn sie erschöpft sind. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass wir nicht selbst einem inneren Diktator gehorchen, der uns ständig antreibt. Freiheit bedeutet, auch einmal Nein zu sagen – ohne Angst, verloren zu gehen. Es ist ein altes Wissen, wie in der benediktinischen Tradition: „Ora et labora“ – Arbeit und Rückzug, Einatmen und Ausatmen. Diesen Rhythmus müssen wir lernen.

NEUE am Sonntag: Digitalisierung in der Erziehung. Viele Eltern kämpfen um klare Regeln beim Smartphone. Was raten Sie ihnen?
Kohler-Spiegel: Weltweit schlagen Kinder- und Jugendpsychiaterinnen Alarm. Sie sprechen von einem Naturdefizit-Syndrom. Kinder brauchen freie Naturräume und Bewegung. Wir Erwachsene müssen das ermöglichen. Gleichzeitig braucht es klare Grenzen. Das bedeutet nicht Zensur, sondern Schutz. Eltern müssen standhaft bleiben – Tag für Tag. Es ist anstrengend, aber notwendig. Grenzen geben Sicherheit und helfen Kindern, Identität zu entwickeln.
NEUE am Sonntag: Viele Eltern berichten, dass sich fast alle Konflikte primär ums Digitale drehen.
Kohler-Spiegel: Das stimmt. Ein junger Vater sagte mir einmal: 98 Prozent der Konflikte drehen sich um digitale Themen. Eltern fühlen sich oft überfordert. Aber genau hier braucht es Durchhaltevermögen. Kinder müssen lernen: Da ist eine Grenze. Gleichzeitig müssen wir Alternativen anbieten – Bewegung, kreative Aktivitäten, gemeinsame Unternehmungen. Eltern sind heute mehr gefordert als früher.

NEUE am Sonntag: Welche Rolle spielen dabei Gemeinschaft und Rituale?
Kohler-Spiegel: Eine große. Rituale wie das gemeinsame Abendessen schaffen Raum, in dem Kinder erzählen können, was sie beschäftigt. Es braucht diese Viertelstunden der Aufmerksamkeit. Das hilft, Erfahrungen einzuordnen und Gefühle auszudrücken. Kinder sind nicht dumm – sie sind jünger und unerfahrener. Wir müssen ihnen zuhören und sie begleiten.
NEUE am Sonntag: Viele junge Menschen kommunizieren lieber digital, selbst Telefonieren ist für manche eine Hürde. Geht uns die soziale Interaktion verloren?
Kohler-Spiegel: Soziale Interaktion ist ein Training. Junge Erwachsene scheuen das Telefonat, weil es ein Risiko bedeutet. Aber man kann es üben – wie alles andere. Erwachsene müssen Räume dafür schaffen. Ob beim Abwasch, beim Autofahren oder beim Sport: Gelegenheiten für Gespräche sind entscheidend. Der aktuelle deutsche Kinder- und Jugendbericht spricht vom Schlüsselbegriff „Zuversicht“. Wir werden lernen, besser miteinander zu reden – wenn wir es üben.

NEUE am Sonntag: Künstliche Intelligenz kann inzwischen als Gesprächspartner oder gar als „Therapeut“ auftreten. Wie sehen Sie das?
Kohler-Spiegel: KI ist ein Werkzeug – nicht mehr und nicht weniger. Wir dürfen es nicht überhöhen. Ein Hammer ist ein Werkzeug, ein Handy ebenso. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen. Selbststeuerung, Freundlichkeit und die Fähigkeit, bewusst zu entscheiden, können uns Maschinen nicht abnehmen.
NEUE am Sonntag: Und wenn gerade wie in Vorarlberg im Kinder- und Jugendbereich das therapeutische Angebot an die Grenzen stößt?
Kohler-Spiegel: Das ist problematisch. Menschen brauchen menschliche Begleitung. Lehrerinnen, Lehrherren, Eltern – sie alle können Türen öffnen. Es braucht oft mehrere Anläufe, bis ein Jugendlicher spricht. Aber genau dieses Dranbleiben macht den Unterschied. Gesellschaftlich sind wir gefordert, Strukturen zu verbessern und präsent zu sein.
Immer wieder werden Handyverbote an Schulen diskutiert. Manche warnen aber gleichzeitig vor Zensur. Wie sehen Sie das?
Kohler-Spiegel: Eine Grenze ist keine Zensur. Sie schützt. Demokratie bedeutet, diese Grenzen gemeinsam auszuhandeln. In Schulen kann man klare Regeln setzen – etwa Handys während des Unterrichts wegzulegen. Solche Vereinbarungen entlasten alle. Grenzen helfen, Freiheit zu gestalten. Und es gibt Inhalte, die zurecht erst in einem gewissen Alter zumutbar sind.

NEUE am Sonntag: Im Netz wird trotzdem oft mit „absoluter Meinungsfreiheit“ argumentiert. Was halten Sie von solchen Positionen?
Kohler-Spiegel: Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, aber sie endet dort, wo sie in Gewalt oder Diffamierung übergeht. Das wird derzeit oft verwechselt. Eine Grenze zu setzen, bedeutet nicht, Meinungen zu unterdrücken, sondern Menschen zu schützen. Wir müssen als Gesellschaft immer wieder neu definieren, wo Freiheit endet und Verantwortung beginnt.
NEUE am Sonntag: Viele Menschen empfinden die Welt als aus den Fugen geraten. Woher nehmen Sie Zuversicht?
Kohler-Spiegel: Aus der Gleichzeitigkeit. Es gibt Krisen und Katastrophen – aber gleichzeitig auch Freude und Schönheit. Beides existiert nebeneinander. Wir müssen lernen, das auszuhalten. Resilienz heißt, den Raum zwischen Reiz und Reaktion zu finden und darin Freiheit zu gestalten. Das ist eine tägliche Aufgabe – für jede Generation.
Zur Person und Vortrag in St. Arbogast
Dr. Helga Kohler-Spiegel ist Psychotherapeutin, Theologin und Bildungswissenschafterin. Sie lehrte an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg und begleitet seit vielen Jahren Menschen in psychischen und existenziellen Fragen. Am kommenden Donnerstag gastiert die Obfrau der Telefonseelsorge im Bildungshaus St. Arbogast.
Infos: www.arbogast.at.