_Homepage

Ex-WKV-Spartenobmann hat genug: “Das Maß ist längst verloren gegangen”

28.11.2025 • 18:00 Uhr
Interivew mit Christoph Hinteregger
Christoph Hinteregger nahm sich zuletzt 2022 bei der Wirtschaftsbundaffäre kein Blatt vor den Mund. Für die aktuelle Situation im österreichischen Kammerwesen findet er im Interview mit der NEUE am Sonntag deutliche Worte. Serra

Christoph Hinteregger war über 17 Jahre lang Industrie-Spartenobmann der Vorarlberger Wirtschaftskammer und führte KV-Verhandlungen der Metaller. Im Gespräch mit der NEUE am Sonntag kritisiert er Unverhältnismäßigkeit, Pflichtbeiträge und das Gebaren gewisser Funktionäre. Er fordert radikale Reformen, auch von der Politik.

NEUE am Sonntag: Können Sie sich aktuell entspannt in der Pension zurücklehnen, wenn Sie sich die wirtschaftliche Situation im Land oder die Politik betrachten? Und gerade im Hinblick darauf: Warum hinkt Österreich im EU-Vergleich derzeit so stark hinterher?

Christoph Hinteregger: Ich verfolge das mit Hochspannung. Erstens, weil ich über 17 Jahre lang Industrieobmann in Vorarlberg war. Und ich würde sagen: Es ist so, wie es ist. Es gibt sieben fette Jahre, und es gibt sieben schlechte Jahre. Drei der schlechten Jahre haben wir hinter uns. Dass es so schlecht geworden ist, ist natürlich nicht gut. Klar ist: Österreich hängt an der deutschen Wirtschaft, speziell im Automotive-Sektor und im Maschinenbau. Und wir haben, budgetär betrachtet, kein Einnahmeproblem, sondern ein zweihundertprozentiges Ausgabenproblem. In der Industrie wäre die Reaktion klar: Wenn ein Markt schwächelt oder ein Produkt nicht läuft, geht man an die Kosten. Das entspricht den Ausgaben. Das macht man hierzulande nur halbherzig. Und so, wie die derzeitige Koalition bestückt ist, habe ich leider kein Vertrauen, dass sie echte Reformen zusammenbringt. Eine ganz wichtige Reform wäre die Pensionsreform. Das Alter muss hinaufgesetzt werden, das sieht man in Dänemark, Norwegen, Schweden. Dieses Verharren ist unverständlich. Dazu kommt ein sehr ausgeprägtes Förderwesen in Österreich, mit zwei- und dreifachen Förderungen. Man hat verlernt, mit Anstand Hilfe und Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Man nimmt, was angeboten wird. Ob man es braucht oder nicht. Leider wurde diese Maßlosigkeit auch in der Wirtschaftskammer vorgelebt. Aber auch in anderen Kammern, aktuell gerade bei den Ärzten.

Interivew mit Christoph Hinteregger
Christoph Hinteregger beim Gespräch in der NEUE-Redaktion. Serra

NEUE am Sonntag: Sie waren selbst viele Jahre Funktionär und Spartenobmann. Wenn Sie sagen „maßvoll haushalten“ – wir haben heuer die Gehaltserhöhungen und den Rücktritt von Harald Mahrer erlebt. Was sagt das aus?

Hinteregger: Dass wir als Gesellschaft wieder lernen müssen, verhältnismäßig zu handeln. Diese Tugend ist verloren gegangen. Das hat mit Werten und Ethik zu tun. Mahrer hat kein Gesetz gebrochen, aber – wie man bei uns sagt – „des g´hört sich ned“. Und mir tut es besonders weh, weil es viele engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Wirtschaftskammer gibt, die sehr viel vorwärtsbringen. Die stehen jetzt im schlechten Ruf, und das haben sie nicht verdient. Wenn ich an Vorarlberg denke: Wir haben die Lehrlingsausbildung über Jahre aufgebaut. Fast 50 Prozent der 15-Jährigen beginnen hier eine Lehre. Das ist ein Verdienst der Wirtschaftskammer Vorarlberg, der Fachgruppen, der Unternehmen. Wir haben HTLs unterstützt, weil der Bund sich moderne Technik nicht leisten konnte. Bildung war immer das Zukunftsthema. Und genau deshalb schmerzt es, wenn die Kammer durch einzelne Funktionäre in ein schlechtes Licht gerückt wird.

Interivew mit Christoph Hinteregger
Im Gespräch mit der NEUE am Sonntag wünscht sich Christoph Hinteregger eine Rückkehr zu alten Tugenden. Serra

NEUE am Sonntag: Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Pflichtbeiträge für eine Mitgliedschaft bei der Wirtschaftskammer?

Hinteregger: Gemeinsam mit Johannes Collini und Hubert Bertsch habe ich 2008 mit der damaligen WKO-Generalsekretärin Anna-Maria Hochhauser diskutiert und ganz klar die Pflichtmitgliedschaft abgelehnt. Der Service muss so gut sein, dass man freiwillig zahlt. Man könnte eine Grundgebühr und zusätzliche Beiträge für spezielle Projekte einführen. Aber ÖVP und SPÖ haben damals gemeinsam die Pflichtmitgliedschaft in den Verfassungsrang gehoben. Damit war das Thema politisch abgeschlossen. Heute gäbe es nie mehr eine Zweidrittelmehrheit dafür. Und wenn man sich die zwei Milliarden Euro Rücklagen ansieht, muss man fragen: Was könnten wir alles tun? Aber nicht mit der Gießkanne. Digitalisierung, Bildung, ein Solidaritätsfonds für Unternehmer in schwierigen Situationen, das wären sinnvolle Verwendungen.

NEUE am Sonntag: Während der Corona-Pandemie wurde ebenfalls mit der Gießkanne verteilt. Gerade junge Unternehmen fielen aber durch den Rost. Wie sehen Sie das?

Hinteregger: Nachher ist man immer gescheiter. Kurz meinte es gut, „koste es, was es wolle“. Aber wenn frisch gegründete Unternehmerinnen und Unternehmer durchs Raster fallen, ist das bitter. Eine gewisse Unterstützung wäre angebracht gewesen.

Interivew mit Christoph Hinteregger
Der ehemalige Spartenobmann mit erhobenem Zeigefinger. Serra

NEUE am Sonntag: Kritiker sagen, dass die aktuellen Budget-Probleme auch auf diese Pandemiehilfen zurückzuführen sind. Gleichzeitig will niemand Reformen anpacken, weil man keinem auf die Füße treten möchte. Wie würden Sie das beurteilen?

Hinteregger: Ich wünsche mir, dass man einmal mutig auftritt und Probleme direkt anspricht, wie einst Leopold Figl nach dem Krieg: „Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben. Wir haben nichts. Ich kann euch nur bitten: Glaubt an dieses Österreich.“ Diese Ehrlichkeit fehlt. In vielen Positionen könnte man zehn Prozent einsparen, ohne dass die Welt untergeht. Nicht beim unteren Ende – dort geht es um Existenzen und um Kinder. Aber wir müssen das Budget in Ordnung bringen.

NEUE am Sonntag: Sie waren jahrelang Chefverhandler im Metall-Kollektivvertrag. Wie beurteilen Sie die diesjährigen Verhandlungen?

Hinteregger: Ich muss beiden Seiten ein Kompliment machen. Das war reformbereit. Die Gewerkschaft hat die wirtschaftliche Realität mit einer Erhöhung von 1,4 Prozent berücksichtigt. Wir sind wegen der hohen Lohnnebenkosten im Stundenlohn nicht mehr konkurrenzfähig. Dass dann die Wirtschaftskammer 4,1 Prozent bei ihren eigenen Gehältern ins Spiel bringt, war absolut realitätsfremd. Im ersten Moment habe ich geglaubt, dass Mahrer vielleicht einen Zahlendreher interpretiert hat. Wenn er wirklich mit dieser Zahl gerechnet hat, darf er sie nie laut aussprechen. Und dass Mahrer am Ende gehen musste, war unumgänglich. Der Druck aus den Landesorganisationen und den Medien ist enorm. Genau so habe ich es in meinem Freundeskreis vorhergesagt.

NEUE am Sonntag: Kommen wir nochmals zu ihren damaligen Verhandlungen. Können Sie die Geschichte mit den Bussen schildern, die während der Kollektivvertragsverhandlungen nach Vorarlberg geschickt werden sollten?

Interivew mit Christoph Hinteregger
Christoph Hinteregger war über 17 Jahre für die Wirtschaftskammer tätig. Serra

Hinteregger: Das war eine der extremsten Situationen meiner Zeit als Chefverhandler. Wir hatten fixe Termine. Die Gewerkschaft verlegte den Termin plötzlich und erhöhte gleichzeitig die Forderung. Ich blieb beim vereinbarten Fahrplan. Daraufhin rief die Gewerkschaft in jenen Firmen Streiks aus, aus denen die Verhandler kamen. In Ostösterreich ist die Streikkultur viel ausgeprägter. In Vorarlberg sollte der damalige Gewerkschaftschef Norbert Loacker vor Doppelmayr und Collini mit Trillerpfeifen und roten Fahnen aufmarschieren. Er sagte: „Das ist nicht unsere Kultur“. Da drohte man ihm: „Dann schicken wir die Busse aus dem Osten und blockieren die Wolfurter Werkseinsfahrt.“ Unser Betriebsrat bekam das vorher mit. Die Belegschaft beschloss sofort, das gekonnt zu verhindern. Ein Mitarbeiter und Feuerwehrhauptmann in Wolfurt sagte: „Wenn sie kommen, machen wir eine Brandschutzübung. Dann rücken wir aus. Und wenn nötig kranen wir die Gewerkschaftsbusse ins Ried.“ Ich erfuhr das erst einige Wochen später. Die Geschlossenheit der Belegschaft hat mich tief bewegt. Vorarlberg hat eine andere Kultur: lösungsorientiert, nicht konfrontativ.

NEUE am Sonntag: Wie beurteilen Sie das Ost-West-Gefälle in Österreich in Bezug auf Lohn-, Wohn- und Lebenshaltungskosten aus Arbeitgebersicht?

Hinteregger: Die Frage ist nicht Ost gegen West, sondern international: Schweiz, Liechtenstein, Deutschland. Dort verdienen Akademiker mehr. Wir haben kürzere Wochenarbeitszeiten, sechs statt vier Wochen Urlaub, längere Karenzzeiten, bessere Kinderbetreuung. Wenn man alles durchrechnet, ist der Unterschied kleiner. Wichtig wäre, Überstunden steuerlich zu entlasten – das belohnt Leistungsbereitschaft.

Interivew mit Christoph Hinteregger
Der Seilbahner ist überzeugt, dass die Wirtschaftskammer sinnvolle Arbeit leistet, einzig die Maßlosigkeit gewisser Funktionäre ist ihm ein Dorn im Auge. Serra

NEUE am Sonntag: Würden Sie Selbstbehalte, auch im Gesundheitswesen begrüßen?

Hinteregger: Wir haben keine direkte Kunden-Dienstleister-Beziehung, zumindest nicht außerhalb der privaten Gesundheitsversorgung. Mit einem Selbstbehalt würde man manche Untersuchungen überdenken. Was ist wertvoller als die eigene Gesundheit? Die muss einem etwas wert sein. Die Ambulanzen sind überlastet. Hausärzte fehlen. Die Nummer 1450 ist ein guter Start, aber eigentlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

NEUE am Sonntag: Wie beurteilen Sie die überbordende Bürokratie, die vonseiten der Wirtschaft und der Industrie gerne als „Bremsschuh“ für den Standort ins Spiel gebracht wird?

Hinteregger: Wir brauchen Regeln, aber es fehlt die Verhältnismäßigkeit. Ob fünf Menschen im Jahr passieren oder tausend täglich, macht einen Unterschied. Amtssachverständige scheuen manchmal Verantwortung. Viele traditionelle Gasthäuser stehen vor dem Aus, weil neue Normen praktisch nicht erfüllbar sind. Die Bürokratie treibt die Kosten in die Höhe und damit die Inflation. Ich bin gespannt, was die Entbürokratisierungsinitiative bringt. 

Interivew mit Christoph Hinteregger
Von der Politik fordert Hinteregger kompromisslose Reformbereitschaft. Serra

NEUE am Sonntag: In Sachen Inflation erholt sich Österreich nur sehr schwer. Es gibt Forderungen nach Markteingriffen, Mehrwertsteuersenkungen oder einer Reichensteuer. Was sagen Sie dazu?

Hinteregger: Energie ist das zentrale Thema. In Vorarlberg sind  wir in einer glücklichen Position. Bei Lebensmitteln ist vieles schwer erklärbar – Landwirte bekommen nicht mehr, Verpacker verdienen mehr. Die Preissteigerungsdynamik ist global. Der freie Markt verändert sich. Trump, China, Indien, Südamerika. Die EU hat noch einen großen Anteil am weltweiten Bruttonationalprodukt, aber unsere Sozialausgaben sind Weltspitze. Das wird auf Dauer nicht finanzierbar sein. 

NEUE am Sonntag: Angesprochen auf Trump und politischen Populismus: Wie erleben Sie die Rolle von Medien, gerade im Bereich von „Social Media“?

Hinteregger: Ich bin für Meinungsfreiheit, bis zu einem gewissen Grad. Es ist eine Erosion der Wahrheit. Die freie Meinung endet dort, wo sie zur Lüge wird. Aber wer definiert das? Das ist das Problem. Und die Algorithmen verstärken das Extreme. Qualitätsjournalismus ist daher wichtiger denn je. Darum hört auch mein 14-jähriger Enkel, dass er mal eine Zeitung in die Hand nehmen soll und nicht alles glauben soll, was er aus dem Smartphone aufnimmt. Ich sehe, dass die EU verstanden hat, dass es nur gemeinsam geht. Die Sanktionen gegen Russland waren konsequent. Datensouveränität wird wichtiger werden. Bestimmte Daten gehören in Europa gespeichert. Wir müssen die Werte Demokratie, Meinungsfreiheit und Freiheit verteidigen.

NEUE am Sonntag: Hat Österreich ein strukturelles Verflechtungsproblem zwischen Politik, Kammern und Lobbys?

Hinteregger: Ein Korruptionsproblem sehe ich nicht. Aber ein Maßlosigkeitsproblem. Der Wirtschaftsbund-Skandal in Vorarlberg war ein Beispiel. Die Geschichte rund um Mahrer ein weiteres. Aber auch andere Kammern, wie bei den Ärzten beispielsweise, haben ähnliche Themen. Funktionäre müssen sich fragen: Was tut der Organisation gut? Und auch der Rechtsstaat ist gefordert, hierzulande tun sich immer wieder Schlupflöcher auf, die interessanterweise oft jenen zugutekommen, die es sich mit den Machthabern gut gestellt haben– man denke an René Benko.

NEUE am Sonntag: Sie haben damals bei der Wirtschaftsbund-Affäre und heute wieder deutliche Worte gefunden. Wie kann man das Vertrauen in jene Institutionen, von denen Sie sich mittlerweile selbst distanzieren, wiederherstellen?

Hinteregger: Es braucht Hausverstand und Verantwortung. Funktionäre müssen sich fragen: Was tut der Organisation gut? Und was ruiniert ihre Glaubwürdigkeit? Das Maß ist in mehreren Fällen verloren gegangen, die Regale im Selbstbedienungsladen der Republik sind inzwischen leer. Das schadet der gesamten politischen Kultur. Auch wenn sich gewisse Herren damals rechtlich offenbar nichts zuschulden kommen haben lassen, moralisch war und ist ihr Tun auf jeden Fall zu verurteilen. Auch wenn man sich jetzt gerne als Opfer darstellt.

NEUE am Sonntag: Abschließend: Welchen Rat würde Ihr älteres Ich dem jungen Christoph Hinteregger geben?

Hinteregger: Dinge mit Hausverstand, Ambition und Engagement angehen. Sich äußern, auch wenn es unangenehme Wahrheiten betrifft – ehrlich, glaubhaft und authentisch bleiben. Punkt.

Interivew mit Christoph Hinteregger
Komm.-Rat Dipl.-Ing. Christoph Hinteregger. Serra

Zur Person

Christoph Hinteregger (Jahrgang 1955 aus Dornbirn) arbeitete über 35 Jahre bei Doppelmayr, wo er als Bereichsleiter Technik und Mitglied der Geschäftsleitung tätig war. Über 17 Jahre war er als Spartenobmann der Industrie in der Wirtschaftskammer Vorarlberg und leitete 2010 und 2011 auf Arbeitgeberseite die Kollektivvertragsverhandlungen in der Metallindustrie. 2017 trat Hinteregger in den Ruhestand.

(NEUE Vorarlberger Tageszeitung, NEUE am Sonntag)