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Wider die radikalen Tendenzen

07.11.2020 • 21:02 Uhr
Beim interreligiösen Friedensgebet am vergangenen Donnerstag im Feldkircher Dom. <span class="copyright">Veronika Fehle/Kirchenblatt</span>
Beim interreligiösen Friedensgebet am vergangenen Donnerstag im Feldkircher Dom. Veronika Fehle/Kirchenblatt

Interview mit Elif Dagli über den Terroranschlag in Wien.

Was war Ihre erste Reaktion, als Sie von den Schüssen gehört haben?
Elif Dagli:
Als ich von den Schüssen gehört habe war ich entsetzt und fassungslos. Ich musste an die vielen verängstigten Leute und meine Freunde in Wien denken und hatte eine sehr unruhige Nacht. Wie viele andere Muslime hatte ich natürlich auch Angst davor, was das Motiv des Attentäters sein würde. In der Früh hatten wir dann die traurige Gewissheit, dass der Attentäter ein Muslim war. Das macht mich nicht nur traurig, sondern auch wütend.

Heute wissen wir, dass der Attentäter vier Menschen getötet und 22 Personen teils schwer verletzt hat. Was sagen Sie zu diesem Anschlag mitten in Wien?
Dagli:
Zunächst einmal möchte ich in tiefer Trauer den Angehörigen der Opfer dieses schrecklichen Terrors mein Beileid und mein tief empfundenes Mitgefühl aussprechen und allen Verletzten eine rasche Genesung wünschen. Was am Montagabend in Wien geschehen ist war ein Angriff auf unsere gemeinsamen demokratischen Werte, auf Frieden und Freiheit und auf die offene Gesellschaft. Für mich persönlich als Muslima stellt es auch einen Angriff auf meinen Glauben dar.

Wie wird der Anschlag in der muslimischen Community in Vorarlberg aufgenommen?
Dagli:
Die Stimmung ist sehr gedämpft. Niemand hätte gedacht, dass sowas auch bei uns möglich sein könnte. Wir trauern mit den Hinterbliebenen, wir beten für die Opfer und alle Betroffenen. Wir suchen das Gespräch mit unseren Mitmenschen, versuchen gegenseitig Trost zu spenden. Natürlich herrscht auch Sorge, dass dieser Angriff dazu führen könnte, dass die Stimmung kippt, dass wir als muslimische Gemeinschaft pauschal dafür verantwortlich gemacht werden, dass es zu Beschimpfungen oder Schlimmerem kommen könnte.

Elif Dagli (29) ist islamische Religionslehrerin. <span class="copyright">Privat</span>
Elif Dagli (29) ist islamische Religionslehrerin. Privat

Viele Menschen sind der Meinung, dass der Islam die religiöse Grundlage für den Terror des IS ist. Was sagen Sie dazu? Missbrauchen die Attentäter die Botschaften des Propheten Mohammed oder liegt die Wurzel bzw. ein Teil des Problems tatsächlich im Koran?
Dagli:
Das Islamverständnis der Extremisten baut auf einem spärlichen Wissensrepertoire auf, auf ein paar aus dem Zusammenhang gerissene Verse im Koran oder teilweise nicht einmal authentifizierte Überlieferungen über das Leben des Propheten Mohammed. Sie werden von Blendern gezielt mit falschen Interpretationen manipuliert, haben kaum islamische Erziehung genossen, wissen nichts über die Hintergründe und den historischen Kontext der Herabsendung der Verse. Einer tieferen theologischen Diskussion halten diese Narrative aber nicht stand.

Jedenfalls tragen Terroranschläge wie jener in Wien dazu bei, dass sich ein Bild vom Islam als „Gewaltreligion“ zunehmend verfestigt. Was können Muslime konkret tun, um dieses Zerrbild zu korrigieren?
Dagli:
Einerseits müssen wir öffentlich und innermuslimisch entschieden gegen diesen Terror auftreten und ihn aufs Schärfste verurteilen. Mit unseren Worten und Taten wieder Vertrauen aufbauen. Radikalen Tendenzen müssen wir entgegensteuern, indem wir sie theologisch und wissenschaftlich widerlegen. Wir müssen uns innerhalb der Universitäten, des Islamunterrichts und der Gemeinden aktiv mit den missbrauchten Glaubensinhalten auseinandersetzen, um sie richtig auszulegen. Und wir müssen uns aktiv der Bildungs- und Jugendarbeit widmen, denn meistens sind es perspektivlose Jugendliche, die in die Fänge der Extremisten geraten.

Als Auslöser für die jüngsten Anschläge gilt die Wiederveröffentlichung der Mohammed-Karikaturen im französischen Satire-Magazin „Charlie Hebdo“. Was halten Sie von diesen Zeichnungen und wie sollen Muslime damit umgehen?
Dagli:
Als gläubige Muslima liebe ich den Islam und unseren Propheten. Das heißt aber nicht, dass alle Menschen um mich herum das gleiche empfinden und glauben müssen. Ich bin der Meinung, dass weder Gott noch der Prophet Mohammed eine Verteidigung durch uns Menschen notwendig haben. Der Streit um die Karikaturen zeigt uns, dass wir unsere Jugendlichen darin bestärken müssen, mit Kritik oder anderen Auffassungen, die es in einer vielfältigen Gesellschaft gibt, umzugehen. Der Prophet selbst hätte solche Taten niemals gutgeheißen, denn er hat auf Provokationen stets mit Geduld und Barmherzigkeit reagiert. Das Schulamt der IGGÖ hat deshalb sofort nach den Anschlägen in Paris einen Leitfaden für Religionslehrerinnen und -lehrer ausgearbeitet und sie dazu aufgerufen, auf das Thema Meinungsfreiheit verstärkt einzugehen.

„Wir müssen uns aktiv der Bildungs- und Jugendarbeit widmen, denn meistens sind es perspektivlose Jugendliche, die in die Fänge der Extremisten geraten.“

Elif Dagli, Vorsitzende der Islamischen Religionsgemeinde Vorarlberg

Der österreichische Pastoral­theologe Paul Zulehner meinte, dass der Anschlag gerade jenen Islam ins Herz trifft, der versucht, das Image einer gewalttätigen Religion zu überwinden und die eigenen Traditionen von gewaltaffinen Texten zu befreien.
Dagli:
Der Täter war Muslim, aber auch unter den Opfern gibt es Muslime, einer davon stammt ursprünglich sogar aus demselben Land wie der Täter. Er hat einfach wahllos geschossen. Der Anschlag trifft uns also alle gleichermaßen, denn er bedroht unser friedliches Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft, das wir so schätzen. Und genau das ist auch das Ziel der Terroristen: sie wollen einen Keil zwischen uns treiben. Das dürfen wir nicht zulassen, wir müssen mit noch mehr Zusammenhalt, Solidarität und Eintracht reagieren. Aber es stimmt auf jeden Fall, dass Angriffe wie dieser unsere tagtäglichen Bemühungen und unseren Einsatz für den Frieden und die Freiheit konterkarieren.

Welche Beobachtungen machen Sie? Gibt es in Vorarlberg radikale, gewaltbereite Tendenzen unter Muslimen?
Dagli:
Ganz prinzipiell gibt es unter den Musliminnen und Muslimen genauso wie in allen gesellschaftlichen Gruppen einen geringen Anteil, der dazu neigt, sich verblenden zu lassen, ins Extreme zu fallen. In Vorarlberg aber herrscht ein sehr gutes Zusammenleben zwischen allen Religionen, es gibt viele gemeinsame Projekte und Initiativen. Wir haben hier sehr offene Moscheen, die alle sehr gute Arbeit leisten, im engen Austausch mit der Nachbarschaft und den Behörden stehen und sich um die Eintracht bemühen. Ich habe bislang in meiner Funktion als Vorsitzende der Islamischen Religionsgemeinde Vorarlberg ausschließlich positive Erfahrungen gemacht.

Zur person

Elif Dagli ist Vorsitzende der Islamischen Religionsgemeinde Vorarlberg, das ist die Bundesland-Vertretung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGIÖ).

Geboren: 15. Juni 1991

Ausbildung: HAK-Matura, Bachelorstudium islamische Religionspädagogik, derzeit ­Masterstudium

Beruf: Religionslehrerin

Und falls Sie doch einmal negative Erfahrungen machen: Was werden Sie dagegen unternehmen?
Dagli:
Radikalisierung entsteht nicht von heute auf morgen. Meistens sind das junge Männer, die mit weniger Ressourcen ins Leben starten, was Bildung und Perspektiven betrifft, die vielleicht Diskriminierung erfahren haben, denen das Gefühl der Zugehörigkeit fehlt. Sie driften ab in Gruppierungen, die ihnen Anerkennung versprechen, meis­tens finden sie sie in den sozialen Medien. Wir leben in Zeiten von Fake News und Verschwörungstheorien, das ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung und ein Problem, dem wir uns stellen müssen. Es ist wichtig, dass wir hier sehr aufmerksam sind und Radikalisierungstendenzen von Anfang an erkennen, also vor allem auf Präventionsarbeit setzen.

Sehen Sie die Gefahr einer politischen Instrumentalisierung des Anschlags?
Dagli:
Ja, sicher. Rechtsradikale Kräfte sind immer empfänglich für solche Anschläge. Mit Angst und Verunsicherung lässt sich immer gut Politik machen. Die Wahlsprüche der FPÖ lassen diese Vorgehensweise gut be­obachten. Umso mehr sind nun die gemäßigten Politiker gefordert nicht in dasselbe Boot aufzuspringen, um auf Wählerfang zu gehen, um Profit daraus zu schlagen.

„Müssen sicht- und hörbarer werden“

Auch die beiden muslimischen Politiker und AK-Kammerräte Murat Durdu (Heimat aller Kulturen, kurz HaK) und Adnan Dincer (Neue Bewegung für die Zukunft, kurz NBZ) verurteilen das Attentat in Wien und verweisen mit Nachdruck darauf, dass die Motive für Terror und Gewalt nicht im Islam zu suchen seien. „Das war ein Psychopath“, sagt Durdu, dessen Fraktion bei der letzten AK-Wahl aus dem Stand mehr als sechs Prozent einfuhr und bei der Landtagswahl mit 1,9 Prozent die erfolgreichste unter den Kleinparteien war. Die Muslime im Land müssen seiner Meinung nach „sicht- und hörbarer werden und derartige Gräueltaten mit aller Entschlossenheit verurteilen“.

Für mehr Dialog und gesellschaftliches Miteinander plädiert Adnan Dincer, dessen Tochter sich am vergangenen Montag ganz in der Nähe der Anschlagsorte aufhielt. „Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft dürfen sich jetzt nicht auseinanderleben. Das ist genau das, was die Terroristen wollen.“ Auch Dincer warnt vor pauschalen Verurteilungen. Radikale Tendenzen seien in Vorarlberg nicht bzw. kaum auszumachen. „Ich habe außerhalb der Moscheen in den letzten zehn Jahren ein paar Männer und Frauen gesehen, die in diese Richtung tendieren. Diese sind dem Verfassungsschutz sicher bekannt.“ In den Moscheen habe er noch nie etwas gehört, das abzulehnen wäre. In 15 bis 20 Gebetshäusern sei er regelmäßig zu Gast. Mehr als 30 Moscheen gibt es in Vorarlberg.