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Langer Weg zur Selbstbestimmung

03.12.2020 • 11:00 Uhr
Für Menschen mit Behinderung gibt es noch viele Barrieren.        <span class="copyright">Symbolbild/Shutterstock</span>
Für Menschen mit Behinderung gibt es noch viele Barrieren. Symbolbild/Shutterstock

Der 3. Dezember ist internationaler Tag der Menschen mit Behinderung.

Für die meisten von uns ist es keine große Überlegung wert, die eigenen vier Wände zu verlassen. Schuhe anziehen, Einkaufstasche schnappen und schon ist man unterwegs. Für die 64-jährige Brigitta Keckeis funktioniert das nicht so einfach. Sie lebt seit ihrer Geburt mit einer spastisch athetoiden Tetraparese. Das bezeichnet eine unvollständige Lähmung aller vier Extremitäten mit erhöhtem Muskeltonus. Frau Keckeis ist Spastikerin.

Wenn sie längere Strecken gehen will, ist sie auf ihren Rollstuhl angewiesen. „Ich muss immer sehr genau organisieren, wo ich hingehe. Schauen, wo zum Beispiel Stufen sind. Ein großes Thema ist auch immer noch, dass viele Geschäfte und Lokale für Rollstuhlfahrerinnen wie mich unzugängliche WCs haben. Da muss man sich jedes Mal überlegen, wie man einen Einkauf gestaltet“, erzählt Frau Keckeis. Sie kann ihr Leben seit jeher nicht gleichberechtigt gestalten.

Hintergrund: UN-Behindertenrechtskonvention

Artikel 3 der UN-Behindertenrechtskonvention bestimmt die allgemeinen Grundsätze. Diese allgemeinen Grundsätze des Übereinkommens sind im Einzelnen:

1. die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit im Sinne von Selbstbestimmung,

2. die Nichtdiskriminierung,

3. die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft,

4. die Achtung vor der ­Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit,

5. die Chancengleichheit,

6. die Zugänglichkeit,

7. die Gleichberechtigung von Mann und Frau,

8. die Achtung vor den sich ­entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität.

„Viele junge Menschen in meinem Umfeld haben damals maturiert. Ich durfte nicht einmal die Hauptschule machen. Aufgrund meiner starken körperlichen Beeinträchtigung wurde mir nur der Besuch der ‚Sonderschule‘ zugestanden“, erinnert sich Keckeis. „Ein anschließender Besuch der Handelsschule war für mich nur in Wien möglich. Und vor 15 Jahren habe ich in einer Ausschreibung für eine Ausbildung gelesen: Voraussetzung ist körperliche und geistige Gesundheit. Ich habe diese dennoch gemacht. Es war für mich immer schwierig, und ich musste mich mehr und stärker behaupten als andere.“ Heute ist für viele Menschen mit Behinderung der Bildungsweg schon wesentlich leichter geworden. Aber es gibt noch einiges zu tun.

Richtung Inklusion

Laut Elisabeth Tschann, Fachbereichsleiterin für Chancengleichheit und Behinderung der Abteilung Soziales und Integration der Vorarlberger Landesregierung, möchte man gemeinsam mit der Bildungsdirektion vermehrt in Richtung Inklusion gehen. „Hier wird in Assistenzpersonal investiert, das Kinder und Jugendliche mit Behinderung bei ihrem schulischen Werdegang begleiten“, so Tschann. Für sie ist das in jeder Hinsicht eine Win-win-Situation. „Kinder mit Behinderung werden nicht ausgegrenzt, sie haben eine Chance auf Bildung, und es besteht die Hoffnung, dass sich eine Gesellschaft entwickelt, die mit Vielfalt umgehen kann“, verdeutlicht Tschann.

Brigitta Keckeis ist Mitglied des Vorarlberger Monitoring-Ausschusses.       <span class="copyright">Salmhofer</span>
Brigitta Keckeis ist Mitglied des Vorarlberger Monitoring-Ausschusses. Salmhofer

„Der Umgang mit Menschen mit Behinderung hat sich im Laufe der Jahre wirklich sehr verändert. Inzwischen, und das kann ich aufgrund meiner Lebenserfahrung behaupten, werden wir wirklich als Mensch gesehen und ernster genommen. Die Gesellschaft ist offener geworden. Dennoch finde ich, es sollte Wörter wie ‚Inklusion‘ gar nicht mehr brauchen. Wir sind ein Teil der Gesellschaft, darauf sollten wir nicht mehr hinweisen müssen“, schildert Brigitta Keckeis ihre Wahrnehmung über den Umgang mit Menschen mit Behinderung.

Abkehr von Leistungsgesellschaft

Für Elisabeth Tschann wäre die Abkehr von unserer Leis­tungsgesellschaft ein wichtiges Element, um die Denkweise in unserer Gesellschaft zu ändern. „Wir müssen sehen, dass Menschen auch dann einen Wert haben, wenn sie nichts leisten können. Es geht darum, was unser Leben lebenswert macht. Wir sind alle Teil einer Gesellschaft und jeder hat hier seinen berechtigten Platz.“ Dabei weist Tschann auch darauf hin, dass man nie vergessen sollte, dass Behinderung nicht nur die anderen trifft. „Ein Schicksalsschlag kann uns alle treffen. Da hilft es emotional, wenn man zuvor schon vorurteilsfrei war“, zeigt sich Tschann überzeugt.

Weniger Probleme mit Lockdown

„Ich glaube, mit dem ganzen Drumherum um den Lockdown und Corona haben viele Menschen mit Behinderung weniger Probleme. Wir sind es wohl eher gewöhnt, mit Grenzen umzugehen. Was ich aber ganz klar bemerkt habe ist, dass vor allem im ersten Lockdown die Menschen viel weniger bereit waren, mir etwa beim Stiegen steigen zu helfen. Man war mehr auf Distanz. Jetzt geht es ein bisschen besser“, erzählt Brigitta Keckeis.

Auch Elisabeth Tschann bemerkt in ihrer Arbeit mit Menschen mit Behinderung, dass sie leichter mit den Maßnahmen umgehen und sich auch nicht gefährdet fühlen. Auch für die Schulbesuche während des zweiten Lockdowns habe man sich rechtzeitig vorbereitet. „Es wurde den Kindern rechtzeitig beigebracht, wie man das Internet verwendet. Die meisten Kinder gehen weiterhin in die Schule, weil es für sie sehr wichtig ist. Nur jene aus der Risikogruppe bleiben zu Hause. Bis heute haben wir zum Glück auch noch keine positiven Fälle bei den Kindern“, freut sie sich.

Inklusion

Inklusion ist ein Menschenrecht, das in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben ist. Österreich hat diese Vereinbarung 2007 unterzeichnet. Seit dem Inkrafttreten im Herbst 2008 sind Bund, Länder und Gemeinden verpflichtet, diese Konvention in Österreich umzusetzen.

Auf die Frage, was sich Keckeis bis zum nächsten „Tag der Menschen mit Behinderung“ wünschen würde, lächelt sie und meint, dass man sich ja alles wünschen dürfe. „Es wäre schön, wenn mehr Menschen mit Behinderung als Politiker auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene auftreten würden. Dafür müssten aber Umbauten stattfinden. Im Landtagssaal sind die Plätze und das Rednerpult nur mit Stufen erreichbar, das gehört adaptiert.“

Barrieren im Kopf

Apropos Adaption: Brigitta Keckeis ist Mitglied im Monitoring-Ausschuss. Sie steht auch mit Rat und Tat zur Seite, wenn man Hilfe braucht bei der Gestaltung eines behindertengerechten Raumes. Ein Gespräch mit ihr hilft dabei in zweierlei Hinsicht, beim Abbau von architektonischen Hindernissen und beim Abbau von eventuell noch vorhandenen Barrieren im Kopf.
„Man sollte aufeinander in ‚gleicher Höhe‘ zugehen und sich im ‚Jetzt‘ aufeinander einlassen und neugierig auf den Austausch mit Menschen mit Behinderungen, Andersdenkenden und Andersaussehenden sein. Dann kann man daran gemeinsam wachsen. Wir sollten unser Miteinander ressourcen­orientiert anstatt defizitorientiert gestalten“, gibt Brigitta Keckeis zum Abschluss noch mit.