Keine Betreuung für Erwachsene mit schwerer Behinderung

Die 26- und 48-jährigen Kinder von Dorothea Wieser (66) und Renate Vogel (66) sind frühkindliche Autisten und müssen von ihren Eltern betreut werden.
Lorenz Häfele aus Mellau ist ein 26-jähriger Mann mit frühkindlichem Autismus. Frühkindlicher Autismus gehört zu den Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) und gilt als eine schwere Form dieser Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung. Konkret bedeutet das unter anderem: Der junge Mann verarbeitet Informationen meist wortwörtlich. Wenn seine Mutter Dorothea Wieser (66) zum Beispiel sagt „Man könnte einmal Ski fahren gehen“, meint er, dass sie sofort die Skikleidung anziehen und zum Skilift fahren.
Dorothea Wieser: „Man muss immer weiter und zweifach denken und die Worte sehr genau wählen. Denn sonst gibt es Missverständnisse, und es kann länger dauern, sie zurechtzurücken.“ Der junge Mann liebt Reisen, diese müssen aber sehr gut geplant und mit Bildern zur visuellen Einstellung vorbereitet werden. Wenn etwa eine Reise mit dem Zug nach Hamburg ansteht, gestalten die Eltern ein Heft mit Fotos. Darin ist ein Bild eines Nightjets zu sehen, der für die Zugfahrt steht, weiters gibt es ein Foto des Hamburger Bahnhofs, dann eines von einem Hotel, eines vom Zoo und weitere Bilder des geplanten Aufenthaltes.
Die Situation ist bekannt, aber trotz vieler Gespräche ist bis heute nichts passiert.
Renate Vogel, Mutter und Gründerin der Autistenhilfe Vorarlberg
Dorothea Wieser sagt: „Lorenz ist geistig auf dem Stand eines Drei-, Vierjährigen, aber im Körper eines 26-jährigen, starken Mannes ohne Impulskontrolle. Andererseits ist er von scharfer Intelligenz und erfasst Situationen in Sekundenschnelle, weit schneller als Menschen mit normaler Wahrnehmung.
Können Struktur nicht ersetzen
Die 66-jährige Dorothea Wieser ist seit Kurzem in Pension, ihr Mann Georg Häfele ist ebenfalls Pensionist. Ihr Sohn wohnt zurzeit in keiner Betreuungseinrichtung, sondern wieder bei seinen älter werdenden Eltern in Mellau. Die Struktur, die in einer Werkstätte gegeben ist, können sie nicht ersetzen.
Bis Oktober 2022 lebte Lorenz in einem Wohnhaus der Lebenshilfe in Batschuns und besuchte dort auch die Werkstätte, doch das Wohnhaus wurde wegen Personalmangels geschlossen. Für die Eltern ist diese Situation eine sehr große Belastung. „Ich will aber keinen Mitleidsbericht, sondern aufzeigen, dass es dringend eine Lösung vonseiten der Politik für älter werdende Eltern und deren Angehörige mit Behinderung geben muss“, sagt die 66-jährige Mellauerin gleich zu Beginn des Interviews.

Noch etwas fügt sie unverzüglich hinzu: „Es ist nicht so, dass wir gar kein Betreuungsangebot haben. Lorenz könnte tagsüber unter der Woche immer in der Werkstätte in Batschuns betreut werden. Dafür müssten wir ihn aber täglich um 5.45 Uhr nach Alberschwende bringen, von wo aus er um 6.15 Uhr mit nach Batschuns fahren kann.“ Abfahrt um 5.45 Uhr ist für fast alle Menschen zu früh, für Dorothea Wieser speziell bedeutet das aber, um 4.15 Uhr aufzustehen. Denn für ihr autistisches Kind muss sie Zeiten einplanen, in denen es nicht so läuft wie geplant. Lorenz freut sich zwar auf die Werkstätte, jedoch steht ihm manchmal sein Zwang im Weg, alle Dinge so geordnet zu haben, wie er es sich genau in diesem Moment vorstellt. Ein genauer Zeitplan ist dann schwer einzuhalten. Deshalb kann die Familie diese Betreuung nur zwei- bis dreimal in der Woche in Anspruch nehmen.
Hilfeplaner
Normalerweise haben Menschen mit Behinderung beziehungsweise ihre Angehörigen einen sogenannten Hilfeplaner des Landes Vorarlberg, der gemeinsam mit den betroffenen Personen und deren rechtlichen Vertretern eine für alle befriedigende Lösung erarbeiten sollte. Auch Lorenz und seine Familie hatten einen Hilfeplaner, der sehr engagiert war, doch er ist im Herbst vergangenen Jahres plötzlich gestorben. Nun gibt es noch keine fixe Person, die die Mellauer Familie unterstützt.
Keinen fixen Hilfeplaner haben auch Renate Vogel (66) aus Dornbirn und ihre 48-jährige Pflegetochter Claudia, die eine nicht sprechende, frühkindliche Autistin mit zusätzlicher geistiger Behinderung ist. Wie Lorenz wird auch die 48-Jährige großteils von ihrer Pflegemutter zu Hause betreut.
Renate Vogel sucht seit vielen Jahren einen geeigneten Wohnplatz, der ein sicheres, verlässliches Zuhause für ihre Pflegetochter sein soll. „Die Situation ist bekannt, aber trotz zahlreicher Gespräche ist bis heute nichts passiert. Man wird vertröstet, hingehalten, viele schöne Worte, aber es folgen keine Taten“, sagt die Gründerin der Autistenhilfe Vorarlberg.
Oder sie bekommt auf ihre Frage, was mit Claudia wäre, falls sie selbst einen Unfall hätte oder plötzlich krank würde, zu hören: Notfalls müsse die Pflegetochter in die Psychiatrie oder zu ihrer leiblichen Mutter. „Claudia und ihre leibliche Mutter kennen sich aber gar nicht, da Claudia gleich nach der Geburt fremdbetreut wurde.“ Dass Renate Vogels Ängste, was im Fall der Fälle wäre, durch solche Aussagen noch größer wurden, ist sehr verständlich.

Geschwister
Die Sorgen, was ist, wenn sie oder ihr Mann für die Betreuung ausfallen oder einmal nicht mehr sind, plagen Dorothea Wieser ebenfalls. Auch schon wurde ihr geraten, dass die Geschwister des 26-jährigen Autisten einspringen, doch das ist für sie keine Option. Genauso wenig für Renate Vogel. Die Geschwister seien durch die schwere Beeinträchtigung sowieso schon anders aufgewachsen als Schwestern und Brüder, in deren Familie es keine Behinderung gab, und jetzt hätten sie ihr eigenes Leben, sagen die beiden Mütter.
Doch es muss nicht vom schlimmsten Fall ausgegangen werden, die jetzige Situation mit der fast durchgehenden Betreuung ihrer erwachsenen Kinder alleine ist schon schwer genug. „Du kommst nicht mehr aus der jahrelangen Anspannung heraus“, beschreibt Dorothea Wieser. „Nach jahrzehntelanger Pflege bist du nur noch müde, da Urlaub ja auch ein Fremdwort ist. Dazu kommt die Perspektivlosigkeit“, sagt Renate Vogel.
Die Eltern werden älter, haben aber immer noch ein Kind, um das sie sich kümmern müssen.
Klaus Feurstein,
Landesvolksanwalt
Beide Frauen wissen, dass der Personalmangel – weswegen Lorenz’ Wohnheim geschlossen wurde – ein großes Problem für die Betreuungseinrichtungen ist. Dennoch: „Wir hätten gerne eine zeitnahe Perspektive und eine Lösung unserer Situation durch eine geeignete Wohnform für unsere Kinder.“
Sie verweisen darauf, dass in der UN-Behindertenrechtskonvention, die Österreich im Jahr 2008 unterschrieben hat, geschrieben steht: Es sollte eine normale, altersgerechte Ablöse vom Elternhaus und die Wahlmöglichkeit an Wohnformen geben.
Lebenslanger Druck
Dorothea Wieser und Renate Vogel sind nicht die einzigen in Vorarlberg, die vor solchen Problemen stehen. Landesvolksanwalt Klaus Feurstein ist auch Vorsitzender des Monitoringausschusses. Diese Stelle überwacht, ob die Rechte von Menschen mit Behinderung eingehalten werden. Der Volksanwalt sagt, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung bis zur Volljährigkeit gut einen Platz im System haben. „Wenn sie volljährig werden, kann es schwierig sein, dass sie auf den richtigen Weg kommen. Die verschiedenen Einrichtungen im Land sind bemüht, doch für einige Familien dauert es sehr lange, bis es eine Perspektive gibt“, erklärt Klaus Feurstein. „Die betroffenen Eltern leiden ein Leben lang unter diesem riesigen Druck. Sie werden älter, haben aber immer noch ein Kind, um das sie sich kümmern müssen. Diesbezüglich weiß ich von mehreren Fällen.“
Grundsätzliche Haltung
Landesrätin Martina Rüscher, die für Chancengleichheit und Behinderung zuständig ist, sagt zu der Thematik: „Gerade wegen des Personalmangels kommt es leider vor, dass – wie in Batschuns – eine Wohnform geschlossen wird, und es gibt nicht immer die ideale Situation, wie die Betreuung ohne Unterbrechung weitergeführt werden kann. Unser Ziel ist, diese Übergänge kurz zu halten.“ Man sehe die Not der Betroffenen und arbeite unter Hochdruck daran, neue Strukturen aufzubauen. Die grundsätzliche Haltung sei klar: Es müsse auch für ältere Menschen mit Behinderung genügend Angebote geben. „Das beschäftigt uns massiv. Wir wissen auch, dass hier sehr viel zu Hause abgedeckt wird und die Eltern an die Grenzen der Belastbarkeit kommen.“

Die Autistenhilfe Vorarlberg hat indes schon vor vielen Jahren Wohnkonzepte eingereicht, berichtet Renate Vogel. „Leider liegen sie bis heute in irgendeiner Schublade. Es fehlt am politischen Willen, für ältere Eltern Entlastung zu schaffen.“
In Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Elternselbsthilfe findet am 10. März das Symposium “Die (un)erhörten Eltern” im J.J. Endersaal in Mäder statt. Anmeldung und weitere Infos unter www.autistenhilfe-vorarlberg.at.