Gegenoffensive stockt: “Russen sind nicht dumm”

Der Militäranalytiker Franz-Stefan Gady hat sich selbst ein Bild von der Front in der Ukraine gemacht.
Sie haben in Ihrer Funktion als Militäranalytiker im Juli einige Tage in Frontnähe verbracht und sind dabei auch selbst unter Beschuss geraten. Was ist da passiert?
FRANZ-STEFAN GADY: Wir sind in der Spaorischschja-Region an der Front in ein sogenanntes Gegenbatteriefeuer geraten. Als wir von unseren Fahrzeugen runter sind, habe ich Schüsse von links wahrgenommen. Mein Kollege und ich waren uns einig, dass die “out going” sind. Es war ukrainische Artillerie, die von uns in der Nähe aus weiter entfernte russische Stellungen beschossen hat. Weil aber beide Seiten über Artillerieradarsysteme verfügen, kann der Ursprung von solchen Geschossen schnell festgestellt werden und dementsprechend zurückgefeuert werden. Und tatsächlich kam auf einmal von der anderen Seite der erste Einschlag. Der zweite Einschlag war wirklich sehr nahe, ungefähr 150 Meter entfernt.
Wie ging es Ihnen dabei?
Die Druckwelle war enorm, es war extrem laut, es fühlt sich an als würde es das Innere deines Körpers zerreißen. Der ganze Körper zittert, die körperlichen Reaktionen sind insgesamt sehr stark. Wir haben das nur kurz erlebt, aber man muss sich vorstellen, dass das für die ukrainischen – und auch für die russischen – Soldaten der Alltag ist. Am schlimmsten in diesem Moment ist die schreckliche Passivität – man kann nichts machen, außer in einem Bunker, Keller oder Graben zu verharren und zu hoffen, dass es keinen direkten Treffer gibt.
Ihre Einschätzung zum Verlauf der Frühjahrsoffensive klingt wenig optimistisch. Warum?
Ich versuche weder optimistisch noch pessimistisch, sondern realistisch zu sein. Es ist zu früh, zu behaupten, dass die Offensive fehlgeschlagen ist. Was klar ist: die Ukrainer haben ihre Taktik adaptiert und gehen jetzt in kleinerem Rahmen vor. Teilweise werden Angriffe mit zehn bis 30 Mann durchgeführt. Vieles passiert zu Fuß. Insgesamt geht es also langsamer voran, als von der politischen Führung und auch manchen Beobachtern erwartet. Es wird ein langer und harter Kampf für die Ukraine, den sie aber gewinnen kann – man muss auch dazu sagen, dass die Ukraine täglich Gebietsgewinne erzielt – aber eben sehr begrenzt.
Woran scheitert ein schnelleres Vorankommen?
Nachschub, Munition, Verwundetentransporte geschehen zu einem großen Teil zu Fuß. Das alles schränkt die gesamte Mobilität ein. Mechanisierte Verbände, Schützenpanzer, Kampfpanzer usw. werden so schnell Ziel von Kamikaze-Drohnen, die diese Fahrzeuge bewegungsunfähig machen. Dann setzt die russische Artillerie darauf und versucht diese zu zerstören. Das ist natürlich ein Problem. Der Mangel an Flugabwehr- und Raketenabwehrsystemen zeigt sich hier auch. Man tut sich schwer, vor russischer Aufklärung zu schützen, Drohnen oder auch Kampfhubschrauber zu bekämpfen. Andererseits fehlt es an Minensuchgeräten.

Aber der größere Punkt ist, dass die Ukrainer ihre Operationen noch immer nicht gut integrieren und synchronisieren. Das bietet den Russen die Möglichkeit, sich auf Angriffe gut vorzubereiten und sie haben mehr Verschnaufpausen. Das Problem sind also nicht nur ungenügende Ausrüstung und Munition, sondern auch, dass die Ukraine den Kampf der verbundenen Waffen in größerem Rahmen noch nicht beherrscht. Das muss man mit bedenken, wenn man über weitere Waffensysteme spricht. Diese Plattformen müssen gut integriert werden können. Wobei man dazusagen muss, dass keine europäische Streitmacht in der Lage ist, diese Art des Kampfes effektiv zu führen.
Was müsste sich ändern bzw. was bräuchte es noch für einen Durchbruch?
Es geht einfach darum, dass man diese Systeme gut integriert in die gesamten Streitkräfte und eine entsprechende Doktrine dazu entwickelt. Dazu braucht es natürlich auch Know-How und die entsprechende Ausbildung. Das bedarf einer logistischen Meisterleitung. Wenn man bedenkt, wie viele diverse neue Waffensysteme und Plattformen Kiew in den letzten eineinhalb Jahren erhalten hat, verwundert es also nicht, dass hier nicht alles klappt. Ich glaube, jede Streitkraft hätte in so einer Situation Probleme damit.
Ansonsten braucht es nach wie vor alles, was in so einem Abnützungskrieg gebraucht wird. Das ist nach wie vor Artillerie, sowie die Ersatzteile und Munition, Minenräumer, Pioniergerät und so weiter. Aber man darf sich nicht erwarten, dass es irgendeine Wunderwaffe gibt, die den Durchbruch ermöglicht. Die Summe wird es ausmachen. Dazu kommt die Situation auf russischer Seite: Hält die Frontlinie. Ich würde nicht zu sehr darauf setzen, dass die Moral früher oder später kollabiert. Die war von Anfang an schlecht und trotzdem hat die Front gehalten. Und die Russen befinden sich derzeit eher in der Defensive, das macht es leichter, sich zu verteidigen als in der Offensive.
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In welchem Zustand ist die russische Armee?
Uns wurde gesagt, die Russen sind nicht dumm – sie wissen sich zu verteidigen. Ihre Gefechtsfeldaufklärung funktioniert noch gut und sie haben Artilleriemunition, wobei sie hier inzwischen rationieren müssen. Es ist nicht wie letzten Sommer, wo sie jeden Tag Unmengen verschießen kannten. Doch für die Dimension der ukrainischen Angriffe dürfte die Munition ausreichen. Das bedeutet nicht, dass die ukrainische Armee nicht durchstoßen kann, aber es wird wohl schwierig, strategisch durchzubrechen, also alle Verteidigungslinien zu durchbrechen und tief in den von Russland besetzten Raum im Süden vorzustoßen und etwa das Asowsche Meer zu erreichen und die Ukraine in eine günstige Position für den Winter zu bringen.
Für wie realistisch halten sie einen solchen Durchbruch?
Es ist möglich. Aber es wird ein harter und wirklich zäher Kampf werden.
Sind Aktionen wie der Beschuss der Krim-Brücke etwas, dass sich darauf auswirkt, oder ist das eher ein Signal?
Natürlich hat das einen Einfluss und löste Reaktionen aus in Russland, wie wir es auch in den letzten Tagen erleben haben können. Es ist Teil des gesamten Krieges, aber ich würde diese Einzelaktionen nicht überbewerten.
Spielt die Wagner-Gruppe noch eine Rolle?
Das Ende der Wagner-Saga haben wir noch nicht erlebt. Es wird ein Thema bleiben im Krieg, aber eher im Inneren Russlands. Auf das unmittelbare Kampfgeschehen haben sie aber keinen Einfluss. Dass die Wagner-Gruppe von Belarus aus in größeren Rahmen angreift, würde ich ausschließen.