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Zerstörungswut: die getarnte Bitte um Umarmung

18.12.2023 • 09:51 Uhr
Sonntags-Tagebuch von Heidi Salmhofer. <span class="copyright">NEUE</span>
Sonntags-Tagebuch von Heidi Salmhofer. NEUE

Heidi Salmhofer mit ihrer Kolumne in der NEUE am Sonntag.

Wieder versuche ich, etwas zu verstehen. Denn wenn ich Verständnis für etwas habe, kann ich auch den Kern der Ursache deuten. Ganz wichtig dabei ist, geklärt zu haben: Verstehen heißt nicht gleichzeitig, etwas gut zu heißen. Vor Kurzem sah ich mich mit der Zerstörungswut von testosterongeladenen jungen männlichen Mitbürgern konfrontiert. Erstaunlicherweise sind diese jungen Burschen dem Trugschluss unterlegen, dass Respektlosigkeit dem Eigentum anderer gegenüber etwas unfassbar Cooles und Lässiges, gar besonders Männliches ist. Ich frag mich dann immer, woher denn diese Idee kommt. Jeder sexy männliche Opinionleader wie Superman, Aquaman, die Jungs von Supernatural oder nahezu jeder Fußballspieler lebt den jungen Menschen doch nicht vor, dass Sachen zu ruinieren ein besonders ehrungswürdiges Attribut an Manneskraft ist? Woher kommt das?

Ich erkläre mir, dass diese Kerle wohl einen Energiehaushalt wie junge Dobermann-Rüden haben. Einfach in permanenter Bewegung sein müssen, und wenn mal nichts da ist, um überschüssige Kraft abzubauen, wird das erstbeste Polster in Einzelteile zerfetzt. Wenn dem so ist, sollten wir gucken, dass wesentlich mehr Sportunterricht in den Schulen angeboten wird, inklusive morgendlicher Spaziergänge von zwei Stunden. Auspowern! Oder ist diese Wut eine Art des Widerstands gegen das Erwachsenwerden, gegen die Regeln unserer Gesellschaft? Dann plädiere ich dafür, dass der Ethikunterricht vertieft und mit Sport zusammengeführt wird. Grundregeln für ein respektvolles Miteinander rezitieren, dazu Stadien-Runden rennen. Man merkt, ich bin ein bisschen sauer. Sauer auch deshalb, weil es mir unbegreiflich ist, dass sich im Jahr 2023 das hartnäckige Männerbild hält, dass Mannsein immer noch mit verpflichtender Stärke assoziiert wird. Und für Jungs, die sich ängstlich ob des Lebens fühlen, scheinbar oft kein anderes Ventil da ist als übertriebene Aggression zum Ausgleich.

Genauso wie wir unsere Mädchen stärken müssen, müssen wir den Burschen zeigen, dass Schwäche kein Armutszeugnis ist. Angst, Sorgen und Bedürfnisse zu haben ist extrem ok. Genau das auch zu äußern ist dann die wahre Stärke. Ob meine Gedankengänge den besagten Jungs jetzt helfen, weiß ich nicht. Aber ich zum Beispiel bin schon nicht mehr sauer, und das wiederum hilft, beim nächsten Vorkommnis eine bessere Gesprächsbasis zu finden. Für alle ängstlichen, anlehnungsbedürftigen und traurigen Jungs und Mädels: einen tollen dritten Adventsonntag.

PS: Bei Wut hilft auch, in das eigene Polster zu beißen wie der junge Dobermann. Ich weiß das.

Heidi Salmhofer ist freiberufliche Theatermacherin und Journalis­tin. Sie lebt als alleinerziehende Mutter mit ihren Töchtern in Hohenems.