J. D. Vance: Der Bestsellerautor, der in die Politik ging

Seit J.D. Vance zu Donald Trumps Vizepräsidentschaftskandidat avanciert ist, steigt das Interesse an seiner Sozialanalyse „Hillbilly Elegie“. Zu Recht.
Wären sie nicht autobiografisch, hätten manche seiner Anekdoten das Zeug zur Groteske: Die Großmutter, schreibt er, habe ihren stets besoffenen Mann so sehr gehasst, dass sie ihm Abfall zum Essen vorsetzte und ihn im Zorn einmal sogar mit Benzin übergoss. Und ja, sie habe ihn auch angezündet; ein Anschlag, den er wundersamerweise unbeschadet überstand.
Seine Mutter wiederum schlitterte haltlos durch zahllose Beziehungen und in eine Drogensucht, die sie unberechenbar machte: Als Kind musste er sich vor ihr einmal in die Obhut von Fremden retten; sie hätte ihn sonst, glaubte er, wohl ermordet.
Vances Bestseller
„Hillbilly Elegie“, das Buch, das J. D. Vance zum Bestsellerautor machte, ist voller solcher Stories. Entlang einer Lebensgeschichte, die das Unterschichtskind gegen alle Erwartung bis nach Yale führen sollte, erzählt es von katastrophalen Familienverhältnissen und wahnwitziger Brutalität. Aber es beschreibt parallel eine zentrale Krise der US-Gesellschaft: den inneren Zerfall einer verelendenden, hoffnungslosen Arbeiterklasse. Die „New York Times“ sah in dem Werk „eine teilnahmsvolle, scharfsichtige soziologische Analyse jener weißen Unterschicht“, die am Aufstieg Donald Trumps entscheidend Anteil genommen habe. „Wer Amerika und seine Probleme besser verstehen möchte“, müsse das Buch lesen, stellte die Frankfurter Allgemeine Zeitung fest.
American Dream
Offenbar traf das überzeugend argumentierte Buch ein Zeitgefühl, als es 2016 erschien: Dass der Mythos vom Amerikanischen Traum durchgemorscht war, ließ sich kaum noch übersehen. Ende des Jahre würde Donald Trump die US-Präsidentschaft erlangen. Vance bot dafür nuancierte Erklärungsvorschläge, „in einer für Demokraten und Republikaner gleichermaßen verständlichen Sprache“, glaubte die „New York Times“. Bloß erwies sich Vance bald als durch und durch Konservativer. Und acht Jahre nach der Erstpublikation seiner „Hillbilly Elegie” (und vier Jahre nach einer eher vergessenswerten Netflix-Verfilmung durch Ron Howard) ist er vom Kapitalmanager zum republikanischen US-Senator und jüngst zum Vizepräsidentschaftskandidaten der Republikaner avanciert, an der Seite von Donald Trump, den er seinerzeit als „Idioten“, „Amerikas Hitler“ und „ungeeignet für die Präsidentschaft“ abgekanzelt hat. Heute nennt er ihn „den besten Präsidenten meines Lebens“, steht selbst für Isolationismus, restriktive Abtreibungs- und Genderpolitik und behauptet in Reden, die Biden-Regierung vergifte durch absichtsvolle Nachsicht gegenüber Fentanyl-Dealern die Vergiftung republikanischer Wähler – etwa in den Appalachen, aus denen er selbst stammt und die längst vom einstigen demokratischen Bollwerk zu überzeugtem Trump-Land mutiert sind.
Subkultur “Hillbillies”
Seit Jahrzehnten ist die Gesellschaft der Hillbillies (Hinterwäldler) von Arbeitslosigkeit und Sucht geprägt; wer „Hillbilly Elegie“ nun, nach Vances Nominierung liest, erfährt nicht nur einiges über die regionale Subkultur der von Alabama bis Ohio reichenden Großregion und den Niedergang der Industrie im Mittleren Westen, sondern bekommt auch eine Gesellschaft beschrieben, „die ihren sozialen Verfall in zunehmendem Maße befördert, statt ihm entgegenzuwirken.“ Dass Vance die Hillbillies, die er in seinem Buch so teilnahmsvoll beschriebt, selbst für ihr Ungemach verantwortlich macht, war 2016 noch erstaunlich, aus heutiger Sicht ist es nur konsequent: Mit dem Verlust der wirtschaftlichen Stabilität, argumentiert er, seien den Menschen seiner Region auch das Gefühl für ihre eigene Handlungsfreiheit und damit letztlich alles Arbeitsethos verloren gegangen: „Das Gefühl herrscht vor, dass man über sein Leben gar nicht verfügt; man gibt jedem anderen eher die Schuld als sich selbst.“
Nicht strukturelles, sondern persönliches Versagen ist letztlich am Unglück des Einzelnen schuld. Jeder ist seines Glückes Schmied, das sind klassische republikanisch libertäre Positionen, Vances politische Zukunft hätte man vor acht Jahren also schon ahnen können. Auch, wo sie noch hinführen soll, lässt sich orakeln: Trump werde ja höchstens wieder nur vier Jahre im Weißen Haus regieren, soll Vance gesagt haben, „die große Frage ist, was nach ihm kommt.“ Für einen von Vances Förderern, den ultrakonservativen Publizisten Steve Bannon, ist das schon heute klar: „Ganz sicher strebt er selbst einmal die Präsidentschaft an“, zitiert ihn das Magazin „Politico“.
