Long Covid: „Wir brauchen dringend Kompetenzzentren!“

Michael Stingl, Spezialist für Long Covid, spricht mit der NEUE am Sonntag über Herausforderungen bei der Diagnose und Defizite in der medizinischen Ausbildung.
Sie gelten als österreichweiter Spezialist für postinfektiöse Erkrankungen wie ME/CFS und Long Covid. Wie gestaltet sich Ihr Alltag in der Praxis? Mit welchen Krankheitsbildern sind Sie täglich konfrontiert?
Michael Stingl: Tatsächlich beschäftige ich mich bereits seit 2017 mit ME/CFS, also noch vor der Pandemie. In meiner Praxis sehe ich heute fast ausschließlich Menschen, die an ME/CFS oder Long Covid leiden. An einem durchschnittlichen Tag behandle ich etwa 14 bis 15 Patienten, von denen 80 bis 90 Prozent mit diesen komplexen Krankheitsbildern zu kämpfen haben. Es sind fast immer Menschen, die bereits einen langen Leidensweg hinter sich haben, viele Fachärzte konsultiert und verschiedene Therapieversuche unternommen haben – meist ohne Erfolg. Leider ist die Versorgungslage in Österreich katastrophal. Obwohl ich seit eineinhalb Jahren einen Aufnahmestopp habe, bekomme ich täglich verzweifelte Anfragen.
Sie haben erwähnt, dass viele Ihrer Patienten bereits zahlreiche Stationen hinter sich haben. Was macht die Diagnose von ME/CFS so schwierig?
Stingl: Das Hauptproblem liegt darin, dass ME/CFS in der medizinischen Ausbildung kaum oder gar nicht vorkommt. Viele Ärzte sind mit diesem Krankheitsbild nicht vertraut und wissen nicht, worauf sie bei der Diagnose achten müssen. Das führt dazu, dass ME/CFS oft nicht erkannt wird oder fälschlicherweise als psychiatrische Erkrankung eingestuft wird, weil Erschöpfungssymptome auch dort vorkommen. Ein weiteres Problem ist, dass es keinen einfachen Biomarker gibt, der die Diagnose erleichtern würde. Routineuntersuchungen wie Bluttests sind bei ME/CFS oft unauffällig.
Im Zusammenhang mit ME/CFS und Long Covid geht es auch oft um die Begutachtung für Sozialleistungen. Wie hoch ist die Hürde, wenn es darum geht, dass Betroffene diese Leistungen erhalten?
Stingl: Die Herausforderung ist enorm. Viele Gutachter kennen ME/CFS nicht ausreichend oder wurden diesbezüglich nicht ausgebildet. Was dazu führt, dass Patienten Schwierigkeiten haben, Sozialleistungen wie Reha-Geld zu erhalten. Besonders problematisch ist, dass das Kernsymptom der Post-Exertional Malaise (PEM) – also die Zustandsverschlechterung nach körperlicher oder geistiger Anstrengung – oft nicht systematisch evaluiert wird. Dabei ist die PEM das zentrale Merkmal von ME/CFS und grenzt die Erkrankung von anderen ab. Es ist entscheidend, dass Gutachter speziell in diesem Bereich geschult werden, um eine gerechte und korrekte Einschätzung der Betroffenen zu gewährleisten.
Aufgrund Ihrer Datenschutzeinstellungen wird an dieser Stelle kein Inhalt von Iframely angezeigt.
Das Gesundheitsministerium hat Gelder für Post-Covid-Zentren bereitgestellt. Reicht das aus, um die Versorgungslage zu verbessern?
Stingl: Leider nein. Diese Gelder sind nicht explizit für Long Covid oder ME/CFS vorgesehen, sondern sollen allgemein der ambulanten Versorgung dienen. Was wir dringend brauchen, sind echte Kompetenzzentren in jedem Bundesland, die sich interdisziplinär mit diesen Erkrankungen befassen. In solchen Zentren könnte eine umfassende Abklärung nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen erfolgen. Es gibt viele Dinge, die man bei ME/CFS messen und behandeln kann, aber dafür braucht es entsprechende Expertise, die in Österreich leider noch kaum vorhanden ist. Solche Kompetenzzentren könnten dazu beitragen, dieses Wissen aufzubauen und zu verbreiten. Außerdem sollten diese Zentren auch der Forschung dienen, um das Verständnis für ME/CFS weiter zu vertiefen und bessere Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln.
Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Menschen in Österreich von ME/CFS betroffen sind?
Stingl: Offizielle Zahlen gibt es leider nicht, da die Republik Österreich nie systematisch erhoben hat, wie viele Menschen betroffen sind. Prävalenzschätzungen vor der Pandemie gingen von etwa 20.000 bis 30.000 Betroffenen aus, was etwa 0,4 Prozent der Bevölkerung entspricht. Nach der Pandemie könnten es laut Schätzungen inzwischen bis zu 80.000 Menschen sein. Dabei ist wichtig, zu betonen, dass nicht alle Betroffenen bettlägerig sind. ME/CFS kann in verschiedenen Schweregraden auftreten, aber auch mildere Formen führen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Alltags- und Arbeitsfähigkeit.
Zur Person
Michael Stingl, Facharzt für Neurologie
Der Wiener Mediziner ist erfahrener Neurologe im Facharztzentrum Votivpark und gilt als ein in Österreich führender Spezialist für die Diagnose und Behandlung von Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) und Long Covid.
Infos für Betroffene: www.mecfs.at

Wie gehen Sie mit der Diskussion um die Impfung in Zusammenhang mit ME/CFS und Long Covid um?
Stingl: Ich habe in meiner Praxis etwa 2000 Patienten mit ME/CFS gesehen, oft durch Covid-19 ausgelöst. Und nur in den wenigsten Fällen bestand ein plausibler zeitlicher Zusammenhang mit der Impfung. Die Impfung hat zweifellos dazu beigetragen, schwere Verläufe und Todesfälle zu verhindern. In einigen wenigen Fällen kann die Impfung möglicherweise das letzte Ereignis gewesen sein, das die Symptome ausgelöst hat, aber das ist in meiner klinischen Erfahrung eher die Ausnahme. Für mich als Arzt spielt diese Diskussion keine entscheidende Rolle, denn sie ändert nichts an meinem therapeutischen Ansatz. Es ist wichtig, diese Debatte sachlich und ohne ideologische Vorurteile zu führen, um den Fokus auf die bestmögliche Behandlung der Betroffenen zu legen.
Warum, denken Sie, meidet die Politik das Thema? Könnte es mit der aufgeheizten Diskussion rund um Corona zusammenhängen?
Stingl: Das ist möglich, aber ich denke, das Hauptproblem liegt in der Finanzierung. Es gibt einen einstimmigen Nationalratsbeschluss vom April 2023, der eine bessere Versorgung für ME/CFS fordert, aber wenn es um die konkrete Umsetzung geht, schiebt jeder die Verantwortung weiter. Ideologie mag eine Rolle spielen, aber am Ende geht es oft ums Geld. Es braucht einen klaren politischen Willen, diese Versprechen umzusetzen und die notwendigen Mittel bereitzustellen, um eine adäquate Versorgung für ME/CFS-Patienten zu gewährleisten. Ohne diesen Willen werden die Betroffenen weiter leiden und keine ausreichende Unterstützung erhalten.
Was raten Sie Betroffenen, die mit der schwierigen Versorgungslage und bürokratischen Hürden konfrontiert sind? Wie können sie sich Gehör verschaffen?
Stingl: Betroffene sollten sich direkt an die Politik wenden. Es gibt einen klaren politischen Auftrag, die Versorgung für ME/CFS zu verbessern, und es liegt an den Politikerinnen und Politikern, diesen auch umzusetzen. Die Betroffenen müssen ihre Stimme erheben und Druck ausüben, damit die Probleme endlich angegangen werden. Kurzfristig brauchen wir Kompetenzzentren. Langfristig müssen wir ein strukturiertes Versorgungsnetz aufbauen, ähnlich wie es bei anderen schweren Erkrankungen bereits der Fall ist. Es ist auch wichtig, dass die Öffentlichkeit mehr über ME/CFS erfährt, um das Verständnis und die Akzeptanz für diese Erkrankung zu erhöhen. Nur so können wir sicherstellen, dass die Betroffenen die Unterstützung erhalten, um ihre Lebensqualität zu verbessern.