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Sind gestiegene Suizidzahlen ein Indikator?

05.09.2024 • 19:14 Uhr
Suizidbericht
Die steigenden Suizidzahlen in Vorarlberg zeigen eine besorgniserregende Entwicklung. aks

Vor zwei Jahren stieg das Land Vorarlberg aus der Finanzierung des jährlichen Suizidberichtes aus, jetzt präsentiert der Arbeitskreis für Vorsorge- und Sozialmedizin (aks) die Zahlen und zieht Schlüsse.

Die Studienautoren mussten heuer von einem Anstieg der Suizide im Land von 22 Prozent berichten. Österreichweit lag der Anstieg bei „nur“ 2,7 Prozent.
Wobei durch die vor gut zwei Jahren geschaffene Möglichkeit eines assistierten Suizides bei schwer kranken Sterbewilligen noch unzureichend, bzw. gar nicht erfasst seien.

Es handelt sich dabei aber in den letzten zweieinhalb Jahren doch um 18 Personen. Hier sei noch in den Erhebungsbögen des aks für die Exekutive nachzuschärfen, um diese Fälle zu erfassen und richtig zuzuordnen. Es handle sich bei diesen Fällen doch um eine andere Art von Suizid, wie Albert Lingg erklärte. Leider sei es auch im Beobachtungsjahr 2023 wieder zu zwei Suiziden von unter 15-Jährigen gekommen und in einem Fall eine 15-jährige Person. In unserem Bundesland ist eine deutlich höhere Betroffenheit Jugendlicher und junger Erwachsenen zu verzeichnen, bei denen es in früheren Zeiten nur alle drei bis vier Jahre einen Suizid gab, heuer gleich drei bis 15 Jahre und weitere vier bis 24 Jahre. Die größte Gruppe sind die 25- bis 34-Jährigen mit zwölf Fällen. In absoluten Zahlen waren es 54 Menschen, die 2023 in Vorarlberg Suizid begingen. 2022 waren es noch 44 und 2021 41 Personen. Also ein deutlicher Anstieg, der allerdings mit Vorsicht zu interpretieren sei, wie die Autoren betonten. Männer sind wieder viermal so häufig betroffen wie Frauen: 43 Männer und 11 Frauen.

Indikator für Versorgung?

Wichtig sei der jährliche Suizidbericht und deren Veröffentlichung aus Gründen der Thematisierung und der damit einhergehenden Entstigmatisierung des Suizides, was dann auch dazu führen soll, dass sich betroffene Menschen, aber auch deren Umfeld, Hilfe holen und sich an die Institutionen wenden, die in diesen Fällen Hilfe leisten könn(t)en. An vorderster Stelle die im ganzen Land eingerichteten Sozialpsychiatrischen Dienste (SpDi) in allen Städten Vorarlbergs und zusätzlich im Bregenzerwald.
Aber der Bericht sei, neben den teilweise erklärenden Krisenerscheinungen der letzten Jahre, auch ein Indikator für die Versorgungslandschaft im Land.

Immerhin ist der Anstieg österreichweit mit 2,7 Prozent viel geringer als jener in Vorarlberg mit 22 %. Von diesen lag in Vorarlberg bei 38 % eine psychiatrische Grunderkrankung vor, waren also schon in Behandlung, bzw. in Befundung. Lingg erklärte, dass wir im Land eigentlich gut aufgestellt wären. Das „wäre“ will er aber nicht so verstanden wissen, dass die Quantität an Ärzten und anderem Personal vorhanden ist, aber die Qualität noch verbesserungswürdig ist. Ein anonymer „Hilfeschrei“ aus dem Landeskrankenhaus (LKH) Rankweil im Frühjahr legte das Fehlen an Quantität und Qualität in der psychiatrischen Versorgung im Land nahe, vor allem im Bereich der stationären Behandlungen. Aber auch im niedergelassenen Bereich fehlt es an Psychiatern und psychiatrischen Angeboten, wo Termine, wie Albert Lingg an einem Beispiel erläuterte, oft erst in mehreren Monaten zu bekommen seien. Das kann dann fatal sein.

Personalnotstand

Tatsächlich sind im LKH Rankweil nach wie vor Betten „gesperrt“, weil das Pflegepersonal fehlt, was auch die Landesrätin Martina Rüscher eingestehen musste. Albert Lingg, als ehemaliger Primar im LKH, „blutet das Herz“, wenn er auf die Schließung der psychiatrischen Pflegeausbildung angesprochen wird. Und Ex-Primar Haller sieht diese politische Entscheidung als Fehlentscheidung, die wieder gut zu machen wäre. Lingg verweist darauf, dass neue Ausbildungsmaßnahmen eine Anpassung von 10 Jahren brauchen würden. Eine lange Zeit, die vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo der Bedarf stark gestiegen ist, Auswirkungen haben könnte. Aber auch im Bereich der Erwachsenenpsychiatrie wäre interessant zu wissen, wie viele der Suizidanten vorher stationär im LKH waren und aufgrund des Personalmangels frühzeitig entlassen werden mussten, wie sich mir gegenüber ein niedergelassener Psychiater äußerte. Solche Zahlen sind aus dem Bericht nicht herauszulesen. Aber bei 21 betroffenen Menschen lag eine psychiatrische Grunderkrankung vor, vor allem Frauen, wie betont wurde.

Weiterer Anstieg zu erwarten

Abgesehen davon, dass die Experten vor einer vorschnellen Interpretation – vor allem von Spitzen oder Entwicklungen – warnen, könne trotzdem davon ausgegangen werden, dass Krisen mit einer Verspätung sich auch in den Suizidzahlen bemerkbar machten. Epidemien, Kriege und wirtschaftliche Entwicklungen zeigten sich in verzögerten Wellen. Insbesondere wirtschaftliche Unsicherheit, Angst vor Arbeitslosigkeit oder soziale Isolation, wie sie während der Covid-Pandemie erlebt wurden, können starke Risikofaktoren für Suizide darstellen. Und krisenarm waren die vergangenen Jahre nicht, von der Finanzkrise ab 2008 über die Klimakrise, die Pandemie, den Krieg in der Ukraine bis zur Inflationskrise oder Terroranschlägen. Wie sich diese auf die kommenden Jahre auswirken werden, bleibt abzuwarten. Die gehäuften Suizidfälle zu Beginn des Jahres 2024 lassen auf alle Fälle für den nächsten Bericht einen weiteren Anstieg der Fälle erwarten.

Ob sich der Neubau der Psychiatrie im LKH Rankweil positiv bemerkbar machen wird, auch was die Arbeitssituation dort anlangt, bleibt ebenso abzuwarten. Methodische Unschärfen des Berichtes, wie die zu den assistierten Suiziden, würden den Bericht aufwerten und die Indikatoren für die psychiatrische Versorgung könnten tatsächlich klarer herausgearbeitet werden. Wie viele Suizide nicht erkannt werden, bleibt offen, genauso wie die Zahl der Suizidversuche, die laut internationalen Studien im österreichischen Suizidbericht mit zehn bis dreißigmal so hoch vermutet wird. Auf alle Fälle ist so ein jährlicher Bericht zu begrüßen. Denn für die Thematisierung und Entstigmatisierung macht diese Studie und deren Präsentation allemal viel Sinn. Genauso wie der immer wiederkehrende Hinweis auf die vielen Stellen, wo sich Menschen in Krisen und deren Angehörige hinwenden können: www.142online.at/soziales-netz

Von Kurt Bereuter