Warum der Konflikt in der Ukraine erst der Anfang ist

Militärstratege Franz-Stefan Gady über ein mögliches Vorrücken russischer Truppen.
Herr Gady, wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?
FRANZ-STEFAN GADY: Die genaue politische Absicht von Präsident Wladimir Putin kann ich nicht beurteilen. Ich kann aber wahrscheinliche Szenarien ableiten, auf Basis der russischen Militärdispositionen und der aktuellen Lage. Es scheint so zu sein, dass der Schwerpunkt möglicher russischer Militäroperationen nicht nur im Donbass liegen wird. Vielmehr sind – so ein militärischer Angriff stattfinden sollte – größere Verbände an der ukrainisch-weißrussischen im Nordwesten des Landes und an der ukrainisch-russischen Grenze zu erwarten.
Was bedeutet das konkret?
GADY: Die Hauptstadt Kiew könnte dann ein Schwerpunkt militärischer Operationen sein. Ich denke aber nicht, dass russische Truppen in viele Städte eindringen werden. Es wären nicht genügend Kräfte für einen urbanen Kampf vorhanden. Das Hauptaugenmerk läge eher auf einem rapide geführten Vorstoß, der wichtige urbane Zentren wie Kiew einschließt. Es ginge darum, von Nordwesten in Richtung Süden bzw. Südosten zum Dnepr-Fluss vorzudringen. Es ginge darum, die Verbindungslinien zu kappen und die ukrainischen Truppen davon abzuhalten, sich beim Dnepr, einer natürlichen Verteidigungslinie, festzusetzen.
Parallelen zu den Jahren 2014/2015?
GADY: Europa beschäftigte sich damals sehr mit dem Konzept der “hybriden” Kriegsführung. Nun könnte sich im Gegenzug dazu zeigen, dass vielfach als veraltet bezeichnetes Kriegsgerät – Panzer, Artillerie, Raketen – doch noch die wichtigste Komponente sein könnte. Mit hybriden Mitteln kann man am Ende nur relativ begrenzte Ziele erreichen. Es war ein komfortabler Gedanke der europäischen Politik, dass sich Krieg künftig im Cyber-Raum bzw. Desinformationsbereich abspiele und weniger blutig werde. Im aktuellen Fall wäre er nur Unterstützung für reguläre militärische Operationen.
Wie beurteilen Sie die Rede von Präsident Putin – eine relativ offene Kriegserklärung?
GADY: Ich glaube, es gibt noch eine Chance für Diplomatie, diese schwindet aber stündlich. Seit Beginn der aktuellen Krise vor über einem Jahr wurden von russischer Seite Maximalforderungen gestellt, die der Westen einfach nicht hätte erfüllen können – und zurückweisen musste. Das Kalkül könnte sein, dass der Westen nicht militärisch in einen Ukraine-Konflikt eingreifen wird. Gleichzeitig gibt es die Angst vor einer De-facto-“Natofizierung” der Ukraine und der Stationierung von bodengestützten Raketen-Abwehrsystemen der Nato, die das nukleare russische Atomwaffenarsenal bedrohen. Letzteres wäre womöglich der schlimmste Albtraum für Putin.

Wie geht es weiter?
GADY: Das, was wir jetzt sehen, ist für mich erst der Anfang einer Krise – diese wird sich mit Sicherheit ausweiten, sollte einmal Krieg ausbrechen. Der Konflikt würde eine riesige Eigendynamik entwickeln. Mir ist wichtig, auch die menschliche Komponente zu sehen: Man muss sich vor Augen führen, was es bedeutet, einen konventionellen Krieg in Europa zu führen. Die Verluste auf beiden Seiten wären verheerend, neben den jungen Männern, die sinnlos geopfert würden, ist auch an zivile Opfer, an Frauen und Kinder zu denken. Es gäbe viele Kollateralschäden. Die menschliche Dimension geht leider oft unter. Die Schuld für alle möglichen Toten kann man mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine Person zurückführen.
Erkennen Sie eine Strategie Putins?
GADY: Die russische außenpolitische Doktrin basiert meist darauf, sich gegen Westen hin den Feind vom Hals zu halten, indem man “Pufferstaaten” etabliert. Diesen Gedanken hat Putin offenbar aufgegriffen: Auf der einen Seite ist Weißrussland, auf der anderen Seite die Ukraine. Die militärische Präsenz in Weißrussland scheint ja bereits permanent – nun wird sogar davon gesprochen, dass dort Nuklearwaffen installiert werden. Ich halte Putin für keinen großen Strategen, ich persönlich sehe ihn als Glücksspieler. Er wirft die “Chips” auf den Tisch und schaut, was sich entwickelt. Das ist zumindest mein Eindruck.
Was bedeutet der Konflikt für Europa?
GADY: Der Konflikt wird uns noch lange begleiten – auch, weil er ganz fundamentale Auswirkungen auf die europäische Sicherheitsarchitektur haben wird: Das ist nicht nur eine Krise zwischen Russland und der Ukraine, sondern auch zwischen Russland und der Nato bzw. zwischen Russland und der Europäischen Union. Umso wichtiger ist ausgeklügelte, gute Diplomatie – gepaart mit einer Aufrechterhaltung der konventionellen militärischen Abschreckung.
Kann Verhandeln hier noch helfen?
GADY: Diplomatie hat immer eine Chance, es gibt immer einen Hoffnungsschimmer. Das letzte Wort in dieser Sache ist noch nicht ausgesprochen. Vielleicht kann das Schlimmste noch abgewendet werden – auch wenn ich selbst eher pessimistisch bin.