Die Angst vor dem großen Ruck

Die wichtigste Wahl Europas steht im Juni an: Sie entscheidet, welchen Weg der Kontinent in den nächsten Jahren nehmen wird.
Österreichs Haltung zur EU
Was die Österreicher wollen, und was nicht, ist nicht immer leicht zu fassen. Auf der einen Seite gibt es laut aktueller Eurobarometer-Umfrage kein einziges EU-Mitgliedsland, in dem eine schlechtere Meinung über die EU vorherrscht; in der Alpenrepublik ist das EU-Image extrem negativ, dabei gehört Österreich mit Tourismus, Landwirtschaft und Exportüberschuss seit jeher zu den Gewinnern des Bündnisses.
Auf der anderen Seite aber zeigt die jüngste Auswertung der EU-Kommission, dass bei uns der Prozentsatz der Befragten, die denken, dass ihre Stimme in der EU zählt, deutlich gestiegen ist – um sechs Prozentpunkte auf 57 Prozent. Hier liegt Österreich deutlich über dem EU-Durchschnitt von 43 Prozent. Die Stimme zählt in der Tat, und zwar jede einzelne. Österreich war bei der Herabsetzung des Wahlalters ein Vorreiter, heuer werden darüber hinaus auch in Deutschland, Belgien, Malta und Griechenland 16-Jährige über ihre Zukunft mitbestimmen können. Sofern sie dazu Lust haben: Bei den letzten EU-Wahlen 2019 machten nur 42 Prozent der Erstwähler von ihrem Recht Gebrauch.
Das EU-Parlament
Aber worum geht es eigentlich? Das EU-Parlament ist die einzige multinationale Bürgerkammer der Welt. In allen 27 Mitgliedsländern werden Abgeordnete gewählt – vor dem Brexit waren es insgesamt 750, danach wurde die Zahl auf 705 reduziert. Nun sollen es wieder 720 werden – Grund dafür sind die sich verändernden Bevölkerungszahlen in den Mitgliedsländern. So startete Österreich 2019 mit 18 Abgeordneten, bekam dann ein 19. Mandat dazu und ist im neuen Parlament mit 20 Abgeordneten vertreten. Für die FPÖ ist das übrigens viel zu viel, sie wäre in Brüssel und Straßburg gerne mit der Hälfte zufrieden.
Das EU-Parlament ist neben der Kommission und dem Rat der Mitgliedsländer eine der drei Hauptinstitutionen der EU, die direkt wählbare politische Vertretung der 450 Millionen Einwohner. Gemeinsam mit dem Rat kann es Gesetze beschließen und kontrolliert den gesamten EU-Haushalt. Nach den Wahlen liegt es auch am Parlament, den Präsidenten bzw. die Präsidentin der Kommission zu wählen, auch jedes einzelne vorgeschlagene Mitglied der Kommission muss ein Hearing-Verfahren durch das Parlament durchlaufen.
Wer wird nächster EU-Chef?
Immer wieder wurden Kandidaten auch abgelehnt. Doch im Hintergrund schwelt ein Streit, der auch die kommenden Wochen noch bestimmen wird. Das Parlament hat sich für das „Spitzenkandidatensystem“ ausgesprochen, wonach also jene Person automatisch an die Spitze der Kommission rückt, die die meisten Stimmen hinter sich stehen hat. Das hat bisher einmal funktioniert – 2014, als Jean-Claude Juncker ins Präsidentenamt kam. 2019 hatte der Wahlsieger Manfred Weber (EVP) geheißen; doch die Staats- und Regierungschefs, angestachelt vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron, wollten plötzlich nichts mehr davon wissen und hievten Ursula von der Leyen, ebenfalls EVP, ins Amt.
Offiziell ist es noch offen, aber einiges deutet darauf hin, dass sie auch für eine zweite Periode dort bleiben möchte. Ob das so kommt, hängt von den Deals im Hintergrund ab, denn schließlich sind auch andere Jobs wie Ratspräsident, Parlamentspräsident oder Hoher Außenbeauftragter neu zu besetzen. Auch Nato-Generalsekretär und gegebenenfalls der EZB-Chefsessel stehen zur Debatte.
Rechtsruck und EU-Wahlen
Wie das alles ausgeht, hängt also unmittelbar mit dem Ausgang der Wahlen zusammen. Wie beim letzten Mal fürchten vor allem die Mitte-Parteien einen Rechtsruck. In den letzten Wochen des alten Jahres unternahmen die Rechtspopulisten wie FPÖ, Lega (Matteo Salvini) oder Rassemblement National (Marine Le Pen) im Einklang mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán neue Versuche, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Würden sie alle eine gemeinsame Fraktion bilden, wären sie nach bisheriger Verteilung drittstärkste Gruppe, nach den Wahlen vielleicht noch weiter vorne.
Das ist zwar wegen der nationalistischen Grundhaltung, die sehr oft einem gemeinsamen EU-Vorgehen im Weg steht, weiterhin eher fraglich, der angestrebte Schulterschluss ist aber in den Augen der anderen alarmierend. Der amtierende Außenbeauftragte, Josep Borrell, warnte dieser Tage auch in Hinblick auf die Unterstützung der EU für die Ukraine vor einem Nachlassen: „Europa ist in Gefahr. Wenn wir Putin den Krieg gewinnen lassen, wird das EU-Projekt nachhaltig stark beschädigt.“
Dementsprechend beginnen nun alle, die Werbetrommel für die Wahlen am 9. Juni zu rühren: „In der EU zählt die Stimme jedes einzelnen – besonders im Juni 2024 bei der Europawahl“, sagt Martin Selmayr, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich. „Es geht darum, die Weichen für die künftige Entwicklung unseres gemeinsamen Europas zu stellen. Wir sollten deshalb alle mitdiskutieren, zur Wahl gehen und mitentscheiden.“