Neue Formen des Erzählens

„Gästebuch“ ist ein Konglomerat aus Bildern und Texten.
Was ist das überhaupt, ein Geist? Ist er ein ungebetener Gast in unserem Haus, eine Erinnerung, die uns heimsucht, ein Widerhall der Vergangenheit, ein Gefühl, das immer wiederkehrt? Geistergeschichten gibt es seit Menschengedenken, sie geben dem Unsichtbaren eine Gestalt, lassen uns lustvoll erschaudern und erinnern an den Tod. Die in New York lebende, aus Toronto stammende Autorin, Illustratorin und Künstlerin Leanne Shapton erzählt in ihrem jüngsten Buch Gespenstergeschichten auf eine einzigartige Weise.
Hinterlassenschaften
In ihrem „Gästebuch“ versammelt die Autorin in rund 30 Kapiteln eine große Menge an heterogenem Material, das sie geschickt zu neuen Erzählformen zusammensetzt. Fotografien, Zeichnungen und Bilder, Orte und Architekturen, fiktive Biografien, schriftliche Momentaufnahmen und natürlich auch Geistererzählungen fügt Shapton zusammen zu einem „vielschichtigen Kuriositätenkabinett“, wie es der Suhrkamp Verlag benennt – zu Recht. Das Durchforsten dieses Werks wird für den Leser zur Reise in die Tiefen der eigenen Gedächtniswelt und es lässt uns fragen, ob Geister womöglich die emotionalen Hinterlassenschaften der Menschen sind, die Spuren jener einschneidenden Ereignisse, die am liebsten verdrängt werden.
Eleganter Gast
Gespenster fotografisch festzuhalten ist bekannterweise ein zentrales und auch vergebliches Vorhaben von Geisterjägern. Wie bildlich fassen, „was du nicht zu sehen bekommst“? Shapton geht einerseits den Umweg über die Architektur. Sie zeigt uns (meist gefundene) Fotografien von alten Gebäuden und menschenleeren Räumen, die dieses Gefühl erzeugen, als ob das Vergangene immer noch in der Luft hängt. Zu Bildern von weitläufigen Anwesen erfindet sie skurrile Spukgeschichten, die sich über Familiengenerationen hinweg ziehen. Es gibt auch witzige Passagen, wie die als Fotostory konzipierte Erzählung über einen Tennisspieler, der nach jedem Erfolg am Platz kollabiert und sich von einem unsichtbaren mysteriösen Gefährten coachen lässt. In einem anderen Kapitel lässt sie einen eleganten Gast im blauen Anzug zur selben Zeit an zahlreichen Events der New Yorker Society erscheinen.
Vintage-Kleider
Shapton eröffnet einen schier grenzenlosen Kosmos der Montage, sie kombiniert die angebliche „Zählebigkeit“ der Haie mit der ausführlichen Speisefolge eines Dinners. Zu Auszügen des Drehbuchs von Luchino Viscontis „Tod in Venedig“ abstrahiert sie eine Szene in wunderschönen Aquarellen, die sie mit einer gänzlich anderen Geschichte ergänzt. Dass sich all diese Elemente zu einem in sich stimmigen Kapitel vereinen lassen, ist selbst beinahe gespenstisch.
Die Autorin hat ein Faible für Vintage-Kleider, und so lässt sie fiktive Frauen, die ausgewählte Exemplare getragen haben, wieder aufleben. Dass die Menschen heute per Instagram zeitlebens ihre bildlichen Spuren auf der Welt verstreuen, thematisiert die Autorin ebenfalls – auf ihre eigene Art, versteht sich.
Leanne Shapton.
Gästebuch – Gespenstergeschichten.
Suhrkamp, 320 Seiten. 24,70 Euro.