Michael Köhlmeier von der Schande im Märchen

Bei der zweiten Ausgabe der Reihe „Musik und Poesie“ am Sonntag performten Pianist Sergey Tanin und Schriftsteller Michael Köhlmeier im Seestudio zum Thema „Ehre“.
Zur Musik des jungen vielversprechenden Pianisten Sergey Tanin hat Michael Köhleimer beim zweiten Musik&Poesieabend mitreißende Geschichten über die verletzte Ehre hervorgeholt. Fündig wurde er in der griechischen Mythologie, im Nibelungenlied, in Grimms Märchen, aber auch bei deutschen und österreichischen Schriftstellern.
Bildhafte Sprache
In seiner gewohnt spannenden freien Erzählweise und mit witzigen Bemerkungen zu den Figuren zieht Köhlmeier das Publikum in die Welt der Literatur. Der Autor erzählt in unterschiedlichen Geschichten vom Konzept des „gekränkten Ichs“, von Schande, Demütigungen und der Rache, die alles vergelten soll. Köhlmeier packt die Erzählungen zusammen und reduziert sie aufs Wesentliche, es sind die ganz entscheidenden Ereignisse, die er den Zuhörern ausgeschmückt mit bildhaften Details und persönlichen Ergänzungen präsentiert.
Die Ehre sei etwas, das nur existiert, wenn sie verletzt wird – wie Köhlmeier beobachtet. Auch wenn Frauen in der griechischen Mythologie so gut wie keine Ehre haben, sind sie oft der Grund für in ihrem Ehrgefühl verletzte Männer. Auch in Homers Ilias wurde der Zorn des Achill entfacht, indem er ausgerechnet seinem Gegner König Agamemnon seine Mätresse geben musste. „Das ist sehr sehr böse.“, sagt Köhlmeier. In seinen Erklärungen wird nachvollziehbar, warum er ausnahmsweise Agamemnons Ermordung gutheißt oder den Teufel ins gute Licht stellt, wenn er in einem Märchen der Gebrüder Grimm einem verbannten Soldaten zur Seite steht.

Im Nibelungenlied dagegen spielt eine Frau – Kriemhield – die Heldenrolle, wobei im Gemetzel weniger die Ehre und mehr die Rache über den ermordeten Siegfried ausschlaggebend wird. Als dritte Geschichte bringt Köhlmeier dem Publikum „eine der besten Novellen, die überhaupt geschrieben worden ist“ nahe: Casanovas Heimfahrt von Arthur Schnitzler. Eine düstere Geschichte über eine „moderne Figur“, die als Person an sich berühmt wurde, ein „Seitenblicke-Promi“, wie der Autor scherzt. Aber dem seltsamsten Duell, dem Köhlmeier in der Literatur begegnet sei, spielt im „wunderbaren Roman“ Der Zauberberg von Thomas Mann, wo zwei Herren um die Seele des Hans Castorp kämpfen: Der eine schießt in die Luft, der andere sich selbst in den Kopf. Köhlmeier vermutet, dass Thomas Mann bei diesem Überraschungsmoment eine Zeile vorher nicht gewusst habe, was seine Protagonisten machen.

Junger Pianist
Zwischen den Erzählungen spielt der 1995 im sibirischen Jakutien geborene Pianist Sergey Tanin Werke von Marie Jaëll und Franz Liszt. Tanin begann im Alter von 5 Jahren Klavier zu spielen und konzertierte bereits mit 11 Jahren mit dem Moscow Symphony Orchestra im Tschaikowsky-Konservatorium. Er zählt zu den vielversprechendsten Pianisten seiner Generation. Seine internationale Karriere begann 2018 in Zürich mit dem Géza Anda Wettbewerb. Heute lebt er in Basel. Als Solist trat er mit führenden Sinfonieorchestern auf. Mit seinem “…exzellenten, reinen und ehrlichen Klavierspiel, das an die Werte der großen russischen Klavierschule erinnert…” (Geza Anda Jury-Notizen), verfügt er über ein breites Repertoire von Rameau und Bach, über bedeutende Komponisten der Klassik und Romantik bis hin zu zeitgenössischer Musik von führenden Persönlichkeiten wie Larcher und Ades.