Neue Perspektiven auf zwei starke Charaktere

Beim zweiten Pressetag der Bregenzer Festspiele wurden die Opern „Werther“ und „Die Judith von Shimoda“ aus heutiger Sicht beleuchtet.
Zehn Tage noch bis die 77. Bregenzer Festspiele sich dem Ende neigen. Mit der Zeit bis jetzt sei Intendantin Elisabeth Sobotka „wahnsinnig glücklich“, sagt sie beim zweiten Pressetag am Donnerstag. Derzeit sei sie einerseits im Tagesgeschehen, bei den Proben in den nächsten Stunden, aber auch bei den Vorbereitungen für die nächsten Tage und für die nächste Saison 2024, in der „Der Freischütz“ als Spiel auf dem See Premiere feiern wird.
Schweres Stück
Eine von Sobotkas „Herzensproduktionen“ sei heuer die 8. Opernstudioproduktion „Werther“ vom Komponisten Jules Massenet. Bei der ursprünglichen Überlegung, Werther ins Programm zu nehmen, sei die Oper als passend erschienen, weil sie den jungen Sängern im Opernstudio „ein ganz schweres, ganz herausforderndes Stück“ mit auf den Weg in ihr Berufsleben gebe und somit genau ins Konzept des von Sobotka 2015 gegründeten Opernstudios passe. „Wir wollten komplette Aufführungen von großen Werken machen und jungen Sängern die Möglichkeit geben, das hochprofessionell auf einem Niveau zu erarbeiten, das dem Publikum auch einen Mehrwert gibt.“ „Frisch und unverbildet“, werde dem Publikum eine neue und erweiterte Sicht auf Stücke geboten.

Wie die Regisseurin Jana Vetten sagt, habe sie mit „Werther“ noch eine Rechnung offen, im Rahmen des Studiums vor zehn Jahren hatte sie schon einmal eine Fassung von Werther erarbeitet. Während damals noch der Fokus auf der tragischen Liebesgeschichte und Werthers Emotionalität lag, stehe sie den Figuren nun sehr viel ambivalenter gegenüber. Dementsprechend richtet sie nun den Blick auf die anderen Figuren, die Gesellschaft rundherum und vor allem auf Charlotte, „die quasi nicht mehr nur das Objekt der Leidenschaft ist, sondern eine zeitgenössische Frau, die ja und nein sagen kann und darin leider nicht immer ernst genommen wird.“
Zeitgenössisch
Dieser Perspektivenwechsel hätte sich aus den „Erfahrungen, die man so als junge Frau sammelt“, ergeben, beschreibt die Regisseurin. Im Gegensatz zu Goethe, wo Werthers Briefe nur seine Sicht schildern, gibt die Oper allen anderen Figuren auch eine Stimme und einen eigenen Charakter, was für Vetten „ein großer Schatz an Motiven“ sei. Sie betrachte die Geschichte von Werther „aus der heutigen Brille“. Aufgrund der heiklen Thematik rundum den „Werther-Effekts“ hätte sie den vierten Akt (Werthers Selbstmord) im Theater möglicherweise gestrichen oder anders aufgebaut, in der Oper könne sie die Musik dazu aber nicht weglassen, weshalb sie auch hier den Zugang auf die nahestehenden Angehörigen lenkt.
Die musikalische Leiterin Claire Levacher spricht von einer „besonderen Dynamik“ der Opernstudioproduktion. Massenets Musik sei „intim und detailliert“, mit der Regisseurin Vetten habe sie bereits im Februar gesprochen. „Ich finde, es ist mehr ein Gefühl zusammenzuarbeiten und dass wir probieren, in die selbe Richtung zu gehen“. Die kanadische Mezzosopranistin Kady Evanyshyn spricht von einer großen Herausforderung und Chance, die Rolle der Charlotte zu singen. Zusammen mit den Kollegen gehe sie in einem spielerischen Zugang mit dem Stoff und der Musik um, wodurch sich viele neue Wege zu finden. Denn auch die Sänger würden die Oper aus einem zeitgenössischen neuen Blickwinkel betrachten. Für den mexikanischen Tenor Raúl Gutiérrez ist „Werther“ seine Traumrolle, aber auch stimmlich sehr schwierig.

Passend zu Butterfly
Nach der Werther-Premiere am Montag wird am kommenden Donnerstag die Oper „Die Judith von Shimoda“ auf der Werkstattbühne uraufgeführt. Durch die langjährige Zusammenarbeit mit der neuen Oper Wien sei Sobotka auf den Komponisten Fabián Panisello gestoßen, der das Stück vorgeschlagen habe, dass „so wahnsinnig gut zu Madame Butterfly passt“. „Die Judith von Shimoda“ habe ähnliche Themenstränge, aber eine andere kritischere Auseinandersetzung mit vielen Aspekten, die auch in Madame Butterfly zu finden sind. „Ganz wesentlich“ für die Programmwahl ist, dass das Stück einen sozialkritischen Aspekt habe, erklärt der Dirigent und musikalische Leiter der Neuen Oper Wien Walter Kobéra. Er möchte eine „heutige“ Klangsprache präsentieren, wodurch ein Stoff notwendig sei, „der uns heute betrifft“. Außerdem sprach Kobera über die spannende 19-köpfige Orchesterbesetzung, mit der ein „klangliches Raumtheater“ geschaffen werde. Probeneinblicke ermöglichen einen Blick auf das künstlerische Bühnenbild und erste stimmliche Eindrücke: Die US-amerikanische Sopranistin Anna Davidson spielt die Hauptfigur Okichi, welcher die Regisseurin Carmen C. Kruse die Oper gewidmet hat.

Die Inszenierung zeigt Okichi in einem Zeitraum von 20 Jahren, in dem sie von der Geisha zur Aktivistin und Künstlerin wird und über die Jahre von der Gesellschaft mit den negativen Folgen ihrer einstigen Heldentat konfrontiert wird. Als die US-Amerikaner mit Kriegsschiffen 1856 nach Japan kamen, um Handelsverträge abzuschließen, kommt es zu großen Missverständnisse. Okichi wird gebeten den ausländischen Konsul zu besänftigen und so ihre Stadt vor Angriffen zu bewahren.
Bertold Brecht, der den Stoff von Yamamoto Yuzo 1940 bearbeitet hatte, spricht von „einem Fall dieser Figur“, Kruse stellt sich jedoch in Bezug auf die Veränderung der Gesellschaft die Frage: „Wenn jemand fällt, wer fällt?“ und versucht in der Inszenierung die veränderte Wahrnehmung auf Okichis Lebensgeschichte hervorzuheben. Kruse habe sehr viel mit dem Charakter der Okichi anfangen können. „Sie ist ein sehr starker Frauencharakter, sie hält an ihren Werten fest“. Anders als Cio-Cio-San (in Madame Butterfly) mit ihrer unendlichen Geduld, Liebe und Hoffnung sei Okichi reflektierter und vielschichtiger, findet Kruse.