Vom schönen Wohnen ohne Kinder

Doris Knecht präsentiert heute im Spielboden in Dornbirn ihren neuen Roman über die Veränderungen des Lebens beim Auszug der Kinder.
Mit dem Erwachsenwerden der Kinder krempelt Doris Knechts Hauptfigur nochmal ihr Leben um. Große Veränderungen stehen an, die unbekannte Zukunft rückt näher. Wie wird es sein, wenn die Zwillinge (endlich) ausgezogen sind, die Wohnung dann zu teuer ist und man sich nicht mehr kümmern muss? Aber Bedenken gibt es trotzdem: „Ob es mich nicht doch umhauen wird, so wie andere Mütter. Ich weiß noch nicht, wie ich mich tatsächlich fühlen werde, wenn sie beide weg sind und ich in der leeren Wohnung stehe.“
Alltagssorgen
In Häppchen lässt die Autorin Doris Knecht ihre Leser hineinblicken in das Leben der namenlosen Protagonistin, in den ganz unspektakulären Alltag einer Familie und deren Sorgen: Der Hund kotzt ins Auto, die Wohnungssuche bringt nicht die erhofften Ergebnisse und am Ende ist der Sohn dann doch viel trauriger als gedacht.
„Ich habe beschlossen, über mein Leben zu schreiben, mein Aufwachsen und mein Fortgehen, und schon ist es ein Krampf.“, schreibt die Autorin noch in den ersten Seiten. Und da beginnt die Geschichte zu wackeln, nicht nur das Leben wird umdisponiert, sondern auch die Figuren im Roman. Einen Anspruch auf Echtheit gibt es nicht, nicht einmal in der fiktiven Handlung, die beliebig neu erzählt wird, wenn sich die Erinnerung plötzlich ändert. Knecht spielt mit den möglichen Wirklichkeiten und dreht die Handlungen so zusammen, dass alle zufrieden sind. Aus der Tochter wird ein Sohn. Autobiografische Bezüge gehen über in die erfundene Welt, wo eine alleinerziehende Mutter mit ihren Zwillingskindern behutsam in die nächste Lebensphase übergeht.
Langsam und vorsichtig wird die Familienwohnung aufgelöst und das gemeinsame Leben aufgespalten. Jeder nimmt etwas mit und nur die Markierungen vom Wachsen der Kinder bleiben im Türstock zurück. Metergenau werden die neuen Entfernungen abgemessen und entspannt beginnen die Tage in der neuen Wohnung. „Ich schlafe jetzt jeden Tag, bis ich aufwache.“ Statt emotionalem Drama schildert Knecht mit Ironie einen fast ungerührten Abschied, bei dem die Zufriedenheit überwiegt.

Familienverhältnisse
Die großen Umbrüche passieren nebenbei, rücken fast in den Hintergrund, denn immer wieder schweift die Figur ab ins Innenleben dieser Frau und auch in ihre Vergangenheit, wo sie in der Familienkonstellation als einziger Nicht-Zwilling auch nicht im Zentrum steht. Die vielen Vergleiche hat sie mitgenommen in die Gegenwart, wo Aussehen, Besitz und Beziehungen jenen der der Schwestern und Freunde gegenüberstehen und gedanklich ausdiskutiert werden.
Knecht führt die Leser dynamisch durch die banalen Momente des Lebens und die ausgeglichene Gefühlswelt ihrer Protagonistin. Erstaunlicherweise wird es nicht langweilig, auch wenn der Alltag gleichförmig weiterläuft, die kleinen Probleme immer wieder zur Sprache kommen – weil sie eben auch in der Wirklichkeit nicht sofort verschwinden. Interessant sind die Rückblenden, der eigene Auszug aus dem Elternhaus, die prägenden Erfahrungen am Beginn des Erwachsenseins, die den Kindern nun bevorstehen.
Gesellschaftliche Diskurse
Ganz unaufgeregt thematisiert Knecht die schwierigen Themen wie die Last der Verantwortung als alleinerziehende Frau, die drohende Altersarmut, Schwangerschaftsabbrüche und die psychische Gesundheit. Erzählerisch fällt die Figur aus dem Rahmen der traditionellen Erwartungen, denen sie sich ausgesetzt fühlt. „Der sicherste Weg für eine Frau war: einen guten Mann finden, heiraten, ein Zuhause aufbauen, Kinder hineinsetzen, für immer glücklich sein.“
Knechts Buch „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ ist eine Geschichte des Neuanfangs und des Abschieds. Was in der Erinnerung keinen Platz hat, wird nur durch Zufall wieder hervorgeholt. Doch mit der Aussicht auf die neue Freiheit fällt das Loslassen leichter. Und irgendwann wird sich auch der Hund ans Autofahren gewöhnen müssen.
Doris Knecht: Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe. Erschienen am 24.7.2023, Hanser Berlin, 240 Seiten.