Evangeliumkommentar: Wir sind Angeredete

In unseren wöchentlichen Evangelienkommentaren geben Geistliche, Religionslehrerinnen, Theologinnen und andere ihre Gedanken zum Sonntagsevangelium weiter. Heute mit Johannes Lampert von der Jungen Kirche Vorarlberg.
Sonntagsevangelium
Viele Menschen begleiteten ihn; da wandte er sich an sie und sagte: Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein. Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein. Wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und rechnet, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? Sonst könnte es geschehen, dass er das Fundament gelegt hat, dann aber den Bau nicht fertig stellen kann. Und alle, die es sehen, würden ihn verspotten und sagen: Der da hat einen Bau begonnen und konnte ihn nicht zu Ende führen. Oder wenn ein König gegen einen anderen in den Krieg zieht, setzt er sich dann nicht zuerst hin und überlegt, ob er sich mit seinen zehntausend Mann dem entgegenstellen kann, der mit zwanzigtausend gegen ihn anrückt? Kann er es nicht, dann schickt er eine Gesandtschaft, solange der andere noch weit weg ist, und bittet um Frieden. Darum kann keiner von euch mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet. Lukas 14, 25-33
Wir sind Angeredete
Es gibt eine Erkenntnis die sich ständig wiederholt: Der Mensch isoliert sich. Noch mehr: Er definiert sich als Einzelwesen und trennt sich deshalb von jeder Angewiesenheit. Der Mensch schneidet sich ab und umgibt sich im selben Augenblick mit Dingen und Ritualen, mit Abläufen und Strukturen. Der Mensch des 21. Jahrhunderts legt seine Energie in den Bau eines Turmes aus Spiegeln und Sand, aus Befindlichkeiten und Selbstverwirklichung. Unsere erschaffenen Dinge und unser getrenntes Schauen auf das Brauchen dieser Dinge sind zu riesenhaften Ersatzgöttern geworden: Wir stehen alletage im Windhauch der Bedürfnisse, ausgliefert in der Anhäufung von Belanglosigkeit. Wir schwimmen in Zeug und Anhaftung.
Dabei: Wir sind Angeredete. Das Leben spricht uns an. Es stellt uns in eine Verantwortung, in ein Zuhören und Einstehen. Das Leben bittet uns, mit ihm in Bewegung zu kommen, den Sinn für die Verbindungen dieses Lebens zu bemerken und zu schärfen. Wir sind Dörfer und Kommunen, sind in Nachbarschaft und im Gespräch. Wir sind zutiefst ungetrennte Wesen, die daran arbeiten, den riesenhaften Abstand zur Liebe zu überwinden.
Ich ringe nach Worten. Denn es ist mir ein unbedingtes Anliegen, dieses Arbeiten als die glückseligste Aufgabe des Menschen zu beschreiben: Das Entledigen von Ablenkungen und Überlagerungen, die innerste und verinnerlichte Abschaffung von Besitz, das Verlassen des Spiegelturmes aus Sand, der Fall der Herrschaft der Willkür, das Finden von Frieden im Menschen gegenüber, das Werden des Ich am Du, das Rücken der voraussetzungslosen Liebe in die Mitte jeder Sekunde des Tages, das Reden mit Gott in jeder Begegnung, das Annehmen und Seinlassen von Glaubenssätzen, das Springen in die Ungewissheit der Nebenräume, das Erkennen des heiligen Ortes zwischen Mensch und Mensch, das Wissen um das felsenfeste Aufgehobensein, das Sein im Vertrauen und das Fallenlassen in die unumschränke Verantwortung gegenüber der Liebe.
Der Mensch ist die Herausforderung des Menschen. Er muss verzichten, um zu bemerken. Er muss verzichten, um sich zu finden. Er muss verzichten: Um Gottes Willen. Um Gottes Willen: Er muss verzichten. Wir gehen völlig besitzlos ein in die Liebe. Wir sind Angeredete.
