Kultur

Open-Air-Grenzgänge am Rhein

27.06.2024 • 23:00 Uhr
Walktanztheater_Grenzgänge
Die beiden Hauptdarsteller auf der Brücke in Au. sarah mistura

Zwischen Au (St. Gal­len) und Lustenau bildet der Rhein die Kulisse für Brigitte Walks Tanztheaterprojekt über die Beziehungen der beiden Grenzorte.

Zu regnen beginnt es erst, als alle Zuschauenden wieder sicher im Bus zurück zum Bahnhof Au St. Gallen sitzen. Bis dahin bieten die Wolken eine melodramatische Kulisse für „Grenzgänge und der Rhein“ von Regisseurin Brigitte Walk mit Profis und Laien.

Investition oder Verfall

„Die Wolken passen“, findet das Publikum. Zwei Stunden lang hat es sich durch Industriebrachen rund um den Bahnhof Au führen lassen. Auf der schmalen, genieteten Brücke über den Rhein in Bahnhofsnähe hat eine reiche Wienerin ihren ersten Auftritt (überzeugend gespielt von Undine Schneider).

Sie möchte in das Dorf Au investieren, wenn sie es nach eigenen Vorstellungen zu „ihrem“ Dorf umgestalten kann: ein richtiges Schweizer Dorf mit Bergen, Kühen und Schokoladenduft. Edi, der sein Heimatdorf Au vor dem endgültigen Verfall retten will, buhlt um ihr Wohlwollen (stark: Suat Ünaldi), kann aber nicht umhin festzustellen, dass die reiche Fremde nur in ein charmantes Dorf investieren will, das Au aber erst werden kann, wenn sie bereits investiert hat.

Natürlich lässt sich das Problem nicht ohne Weiteres lösen. Aber an seinen Rändern lassen sich wunderbar Open-Air-Grenzgeschichten erzählen. Geschichten vom Rhein als Grenze zwischen Österreich und der Schweiz, als EU-Außengrenze, als Markierung zwischen verschiedenen Mentalitäten. Die einen sind als Kinder zum Rodeln über die Grenze gegangen, die anderen haben unter geschmuggelten, übereinander angezogenen Mänteln am Grenzposten geschwitzt. Zum Tanken fährt man rüber und ins Bordell, den Verkehr schiebt man sich zu, über die Brücke wälzt sich der Schwerverkehr.

Walktanztheater_Grenzgänge
Tänzerinnen, Tänzer und Chor. sarah mistura

Mehrere Schauplätze

Erzählt wird in kleinen Episoden, in knappen Szenen auf leeren Straßen, vor alten Fabrikgebäuden. Mal sind Stühle oder Bänke aufgestellt, mal werden die Zuschauer gebeten, sich auf einem ehemaligen Parkplatz ins Halbrund zu stellen. Den Rahmen gestalten die reiche Wienerin und der Einwohner von Au, die zwischendurch ihre Geschichte weiterspinnen. Dazwischen singt eine Harlekindame (Sarina Weber): Mal improvisiert sie zu einem bekannten Popsong, mal imitiert sie das rauschende Rheinwasser, Raphael Brunner begleitet sie gefühlvoll auf dem Akkordeon.

Außerdem gibt es zwei Tänzerinnen, die zwischen Alltagsbewegungen und ästhetischer Abstraktion das Geschehen kommentieren. Auch die anderen Schauspieler, Laien aus Au und Lustenau, fungieren vereinzelt als Tänzer, wenn sie eine gemeinsame Choreografie befolgen.

Die unglaublich aufwendige Produktion mit über 30 Beteiligten beeindruckt das Publikum, das immer wieder in zwei Gruppen aufgeteilt an Schauplätze geleitet wird. Dieser Abend ist ein Erlebnis, das, mehr noch als sonst, unterschiedlich erlebt wird. Mit cruisenden, faltbaren und aufgepeppten Rädern fah­ren extra dafür gecastete Fahrradstatistinnen und -statisten durch die Szenerie. Alle haben Cowboyhüte, mit denen sie ab und an winken, und Cowboystiefel, teils in Rosa und Pink. Die Kostüme (Sandra Münchow) mäandern zwischen Country, Puschel und Leopardenprints und passen zur unwirklichen Stimmung. Sie bilden eine der Klammern, die die bruchstückhafte Inszenierung zusammenhalten.

Tanztheaterprojekt „Grenzgänge und der Rhein. Ein performativer Spaziergang zwischen hüben und drüben“
Tanztheaterprojekt „Grenzgänge und der Rhein. Ein performativer Spaziergang zwischen hüben und drüben“. sarah mistura

Ab nach Lustenau

Richtig abgefahren wird es, wenn alle im Bus Platz nehmen und bis nach Lustenau, bis zum Rhein nördlich des Reichshofstadions, gefahren werden. Auf der Fahrt werden Kindheitserinnerungen vom Band abgespielt. Lustenauer erzählen darauf von ihren Grenzübertritten. Auf dem Rhein, dessen Damm zunächst erklommen werden will, sitzt die reiche Wienerin in einem Schlauchboot, zusammen mit der Sängerin und einem Mitarbeiter der Wasserrettung. Über Mikrofon spricht sie ihren Text, als ob nichts wäre. Spektakulär. „Drinnen hast du eine Bühne. Draußen hast du den Fluss, Bäume, Wiesen, den Wind, Vögel, alte Fabrikgebäude, das Wetter“, sagt Regisseurin Walk. „Ein Ort draußen ist, wie er ist.“ Einige dieser Orte in ihrer Trostlosigkeit, ihrer Geschichtsträchtigkeit, ihrer Vergessenheit fühlbar machen, das ist an diesem Abend gelungen.

„Die Tänzerinnen waren wie Schatten oder Gedanken, die spielenden Grüppchen in jeder Szene wie zufällig, und doch wie gemalt. Ich bin begeistert“, resümiert Zuschauerin Magdalena Gehrer-Grabher.

Termine: 3., 4., 5. und 11. Juli.