Wo ein Schlossermeister als Butler singt

Das Musiktheaters Vorarlberg zeigt „Sunset Boulevard“ mit Musik von Andrew Lloyd Webber in der Kulturbühne Anbach.
Beim neuen Musical des Musiktheaters Vorarlberg (mtvo) steht eine Frau im Zentrum: Norma Desmond, fiktiver Stummfilmstar, der vergessen ist. Der Tonfilm hat sie abgelöst, ihr überdramatisches Spiel will niemand mehr sehen. Bei einem Besuch bei Paramount Pictures sagt eine Angestellte: „Mein Gott, war das eben Norma Desmond? Sie muss ja eine Million Jahre alt sein!“ Da ist Desmond 50, es ist das Jahr 1950, in das die Handlung des Musicals versetzt ist. Das Stück basiert auf einem Hollywoodfilm von Billy Wilder, die Musik hat Andrew Lloyd Webber geschrieben, der auch Musicals wie „Cats“, „Evita“, „Jesus Christ Superstar“ und „Das Phantom der Oper“ geschaffen hat. Das Musical „Sunset Boulevard“ ist weniger bekannt geworden, dabei verlangt es seinen Darstellern, insbesondere der Norma-Desmond-Interpretin, viel ab.
120 Mitwirkende
Bei einer der letzten Proben auf der Kulturbühne am Bach wird deutlich, wie herausfordernd das Stück für alle Beteiligten ist. Die Präsidentin des mtvo sowie Intendant Nikolaus Netzer haben hinter den Kulissen mit den Assistenten Angela Dockal und Patrick Walser alle wichtigen Fäden in der Hand. 120 Mitwirkende sind es insgesamt. Das engagierte Team um Regisseur Andreas Weirich und Dirigent Michael Mader sowie die Solisten und Orchestermusiker bekommen ein Honorar, alle anderen arbeiten ehrenamtlich.

Die hässliche Seite Hollywoods
Eine Schauspielerin spielt eine Schauspielerin, und dass Hollywoods hässliche Seiten so spitz gezeigt werden, war mit Erscheinen des Films 1950 ein Skandal und ist auch heute selten. Die Mezzosopranistin Dora Kutschi spielt Norma Desmond so überzeugend, dass man meinen könnte, sie hätte nie etwas anderes getan. Die Stimme der Opern- und Konzertsängerin ist klar, voll und ruhig. Auf die Aussage der zweiten Hauptperson, Samuel Tobias Klauser als Joe Gilles, „Sie waren groß“, sagt sie: „Ich bin groß. Es sind die Filme, die klein geworden sind“. Das nimmt ihr ab, wer im Publikum sitzt.
Bezwingende Persönlichkeit
Gillis gerät durch Zufall in Desmonds Villa, korrigiert als Schriftsteller ihr Drehbuchmanuskript für ihr Comeback und wird ihr Liebhaber. Als sie in Streit geraten, sagt er ihr ins Gesicht, was sich sonst niemand traut, nämlich dass sie vergessen ist und die Fanpost eigenhändig von ihrem Ex-Ehemann und Butler Max von Mayerling geschrieben wird. Er will sie verlassen, da erschießt sie ihn. Den Schluss des Musicals bildet jedoch eine Szene, in der Norma weiterhin in ihrer Traumwelt lebt. Wenn es schon schwer ist, Ruhm zu verkraften, wie viel schwerer muss es sein, danach in die Bedeutungslosigkeit zu fallen? Desmond hat Depressionen und mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen. Darstellerin Kutschi schafft es, auch das Schillernde, das Bezwingende ihrer Persönlichkeit rüberzubringen.

Die Schlosserei mit 30 Beschäftigten übergeben
Für die Aufführung konnte ein 1948er Citroën gewonnen werden. Er wird behutsam in den Zuschauerraum geschoben, Riccardo di Francesco, der den Butler spielt, drückt die beeindruckende Hupe. „Die Besitzer des Autos betrachten wir auch als Mitwirkende“, sagt Präsidentin Hinterholzer, und bei so viel Umsicht und Wertschätzung wird allmählich klar, warum die Tänzerinnen, der Chor, das Orchester, die Statisten und die Sänger alles geben. „Wir haben ein Budget von 170.000 Euro pro Produktion. Bei den Bregenzer Festspielen kostet allein die Bühnenkonstruktion sieben Millionen Euro“, sagt Hinterholzer ohne Bitterkeit. Viele Darsteller sind dem mtvo schon über Jahre treu. Zum Beispiel Riccardo di Francesco. Der 59-Jährige ist Maschinenbauingenieur und Schlossermeister. In Florenz und Wien hat er einiges später Klassischen Gesang und Musikdramatische Darstellung studiert. Im Jahr 1999 hat er sich endgültig fürs Singen entschieden und seine Schlosserei mit 30 Beschäftigten übergeben. „Wir beim mtvo sind eine große Familie. Ich darf meinen Körper in ein Instrument verwandeln und den Leuten damit eine Freude machen“, sagt der Bassbariton. Freude macht ihm auch seine Rolle als Beschützer Desmonds. Und während in der Chefetage des mtvo bereits bis 2028 geplant wird, stehen heuer erstmal die Stars von „Sunset Boulevard“ auf der Bühne. Es mag nicht Lloyd Webbers bekannteste Musik sein. Beeindruckend sind Stück und Umsetzung – auch in den leisen Tönen – allemal.
Premiere: 4. Oktober, 19 Uhr in der Kulturbühne Ambach, Götzis.