„Bitte geben Sie mir eine Chance“

Christian Sperger überlebte 1989 einen lebensgefährlichen Unfall. Heute, mit 55 Jahren, sucht er gegen alle Widerstände wieder eine Aufgabe.
Der Moment, der alles veränderte, dauerte nur Sekunden: Am Pfingstsonntag, Muttertag 1989 stürzte Christian Sperger auf einer Trainingsfahrt mit dem Rennrad rund 80 Meter weit eine Böschung an einer steilen Waldstraße bei Berneck hinunter, ohne Helm. Schädel-Hirn-Trauma, Koma, künstliche Ernährung. Diagnose ungewiss, Aussicht fraglich.
„Ich bin einfach liegen geblieben. Keine Brüche, kein Kratzer. Aber im Kopf war alles anders“, erinnert er sich heute. Der damals 19-Jährige wurde mit dem Hubschrauber ins Kantonsspital St. Gallen geflogen, lag wochenlang im Koma. Das erste Wort sagte er nach Wochen: „Mama“. Ein halbes Jahr später lernte er, wieder zu gehen.
Reha mit Disziplin
Was folgt, ist ein jahrelanger Rehabilitationsprozess. „Physio, Bewegungstherapie, Hippotherapie. Ich habe alles mitgenommen“, erzählt Sperger. Auf alten Fotos ist zu sehen, wie er in einem Reha-Stuhl geschoben wird, später läuft er erste Runden um das Krankenhaus, noch später beim Stadtlauf durchs Ziel.
Die Familie trägt ihn wortwörtlich mit. Aber der Wille kommt von ihm selbst. „Ich wollte mich nicht aufgeben. Ich wollte zurück.“

Zurück ins Leben
Nach einem Jahr im Krankenstand beginnt Sperger, sich beruflich neu zu orientieren. Er macht eine Ausbildung, besucht Kurse in CAD-Technik, Geodäsie, Vermessung. „Ich war sogar eine Woche in Wien auf der FH – das war nach dem Unfall.“ Er bekommt eine Anstellung bei der damaligen Post-Telekom, arbeitet sich in technische Aufgaben ein, wird später auch Behindertenvertrauensperson für ganz Vorarlberg.
Doch 2012 kommt der nächste Bruch, diesmal psychisch. „Plötzlich war alles zu viel: Bildschirm, Geräusche, Reize. Ich habe nichts mehr gepackt.“ Er wird frühpensioniert, zieht sich zurück. Wieder muss Sperger sich neu ordnen. Und wieder schafft er es. „Ich musste mein Leben strukturieren, wie damals im Spital. Nur dass ich jetzt selbst dafür verantwortlich war“, erklärt er.
Wunsch nach einer Aufgabe
Heute, mit 55 Jahren, will Christian Sperger wieder arbeiten. Nicht, weil er muss, sondern weil er will. „Ich brauche eine Aufgabe. Ich will am Ende des Tages sehen, dass ich etwas geschafft habe.“ Das Gefühl, keine sinngebende Tätigkeit zu haben, nagt an ihm: „Wenn ich andere höre, die sich nach der viel zitierten Work-Life-Balance sehnen, denke ich immer, das brauche ich auch. Nur ist es bei mir umgekehrt: Ich suche einen beruflichen Ausgleich zu meiner vielen Freizeit. Ich brauche eine Herausforderung und einen gewissen Druck, der mir zusätzlichen Antrieb bringt.“
Er wohnt allein, lebt von einer kleinen Invalidenrente und Pflegegeld. Die finanziellen Rahmenbedingungen sind eng: Rezeptgebühren, Miete, Betriebskosten. „Die Rente deckt zusammen mit dem Pflegegeld kaum das Notwendige. Schon die Kosten für meine Medikamente machen einen großen Teil des Geldes aus, das ich nach Abzug meiner Fixkosten für Wohnen, Verpflegung und das Leben zur Verfügung habe.“ Trotzdem betont er: „Das Geld ist ein Nebeneffekt. Mir geht es um Sinn. Um eine Tagesstruktur.“
Motiviert, aber realistisch
Sperger ist mobil. Er nutzt Zug und Bus, würde auch um vier Uhr aufstehen, wenn es sein muss. „Wenn ich eine Arbeit finden sollte, wo ich um sechs Uhr Dienstbeginn habe, ist das halt so. Ich bin flexibel“, bekräftigt Sperger seinen Willen, wieder ins Arbeitsleben zurückzukehren. Eine Teilzeitstelle mit acht bis zwanzig Wochenstunden wäre ideal für ihn. „Ich kann koordinieren, organisieren, Termine abstimmen, aber auch mitanpacken.“
Am liebsten würde er in der Vermessung mithelfen oder, wo er kann, im Lager, in einer Gärtnerei, vielleicht auch auf dem Bau anpacken. „Ich habe Freunden beim Hausbau geholfen, Kabel gezogen, Leitungen gelegt, gemauert. Ich kann das“, ist er von seinen Fähigkeiten überzeugt. Büroarbeit sei schwierig: „Zu viele Reize“, erklärt er. „Aber draußen oder bei klaren Abläufen: Das geht.“ Auch seine Bewerbungsschreiben hat Sperger selbst verfasst: Strukturiert, sachlich und ehrlich. Sein Schlusssatz in jeder Bewerbung, von denen er viele auch persönlich zu den unterschiedlichsten Unternehmen bringt: „Bitte geben Sie mir eine Chance.“
Keine Ausreden
Dass Sperger heute wieder Sport macht, ist kein Zufall. Er hat sich einen Frame Runner gekauft: ein Dreirad mit Sitz, auf dem er sich mit den Beinen fortbewegt. „Das gibt mir ein Stück Unabhängigkeit zurück.“ Oft kostet es Überwindung. „Aber wenn ich es gemacht habe, geht es mir besser.“
Er sagt offen, was er kann und was nicht: „Ich habe Konzentrationsprobleme, manchmal vergesse ich etwas. Aber ich lerne schnell. Wenn man mir etwas zeigt, kann ich es umsetzen.“ Seine körperliche Mobilität hat sich wieder deutlich verbessert. „Ich kann zum Beispiel wieder meine Socken im Stehen anziehen. Das war lange unmöglich.“
Hyperventilationen, Nervenzittern, Stressreaktionen – das alles gehört zu seinem Alltag. Aber auch Bewegung, Routinen und entwaffnende Offenheit. „Ich muss meine Energie sinnvoll einsetzen, sonst kommt sie gegen mich zurück.“
Optimismus
Christian Sperger ist ein eindrückliches Beispiel, wie schwer es trotz Erfahrung, Motivation und Qualifikation ist, mit Einschränkungen wieder Teil der Arbeitswelt zu werden. „Ich will mich nicht verstecken. Ich will zeigen, dass man mit Einschränkungen etwas leisten kann.“ Der Begriff „Behinderung“ sei oft abschreckend, sagt er. „Ich spreche lieber von Einschränkungen. Weil das sind Dinge, mit denen man umgehen kann.“
Am Ende des Gesprächs sitzt Sperger ruhig am Tisch, eine Mappe mit Unterlagen vor sich. Pläne, Formulare, Kontakte. Alles vorbereitet. Trotz all seiner Herausforderungen hat er seinen Optimismus nicht verloren, im Gegenteil: „Ich weiß, dass ich nicht mehr 100 Prozent schaffe. Aber ich kann wieder etwas beitragen. Und das will ich. Ich will wieder ein echtes Leben.“