Ein Fenster in den Abgrund der Begierde

Modern interpretiert und mutig gekürzt feierte am Donnerstag „Faust. Eine Tragödie“ Premiere am Landestheater Vorarlberg.
Goethe hinterließ den Nachgeborenen eine Herausforderung. Denn obwohl sein „Faust“ vielen Schülern abfällig als heiliger Gral der Deutschlehrer in Erinnerung bleibt, verfügt er über mehr als 200 Jahre ungebrochene Strahlkraft. Diese kann blenden, erhellen, Zweigen frischer Kunst Kraft spenden.
Jetzt zeigt das Landestheater Vorarlberg Goethes „Faust. Eine Tragödie“ – in einer mutigen Neuinterpretation, die den Geschmack der Gegenwart treffen soll. Von Regisseur Max Merker radikal auf eineinhalb Stunden gekürzt, beleuchtet seine Interpretation die Unfähigkeit zur geglückten Liebe.

Faust Club
So fügt es sich, dass Luzian Hirzel die Titelrolle des Wissenschafters Faust als Incel verkörpert. Verkopft und lüstern bedarf er teuflischer Hilfe, verpfändet aus Geilheit und Überdruss sein Seelenheil.
Diabolischer Tauschpartner und eindeutiger Star der Show ist Milva Stark. Als weiblicher Mephisto in kecker Kluft erinnert sie an den von Brad Pitt gespielten Tyler Durden aus dem Film „Fight Club“. Wie dieser auf der Leinwand wirkt Mephisto auf der Bühne wie eine Persönlichkeitsabspaltung von Faust. Sie erlaubt ihm unmenschlich direkt, seine menschlichen Triebe auszuleben.
Die fromme Vernunft
Objekt dieser ist die fromme Margarete. Nach Faust (Individualismus) und Mephisto (Zynismus) repräsentiert sie laut Merker und Dramaturg Martin Beiri das Prinzip der emotionalen Vernunft. Rebecca Hammermüller verkörpert sie verhängnisvoll und mitreißend. Dabei spielen alle Schauspieler mit irrem Tempo und felsenfest sicher im Text. Gleichzeitig bleibt es strittig, ob Hirzel und Hammermüller als Liebespaar überzeugen können.

Kein Husten mit Mephisto
Während das Publikum Anfang der Premiere donnerstagabends auffällig offensiv hustetet, wurde es mit Mephistos berüchtigtem Monolog mucksmäuschenstill: „Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.“
Das Schauspiel wurde als „Physical Theatre“ angekündigt. Unklar, was das in diesem Fall konkret bedeuten soll, kann vermutet werden, dass der teils furzige Klamauk dort seinen Ursprung findet. Die Techno-Szenen mit Adidas-Jacken wirken dagegen wie eine neue bundesdeutsche Tracht. Während viele Besuchende angeben, die Gesangseinlagen hätten ihnen geholfen, zwischen den notwendig langen Monologen Konzentration zu schnappen, überzeugt auch hier Mephisto mit schwefeligem Schlager und wahnsinnig virtuoser Mimik.

Bühnenzauber
Magisch auch das schlichte Bühnenbild von Damian Hitz. Ein fahrbarer Schuppen dient zugleich als Schreibstube, Wohnkammer und Gefängniszelle. Gekonnt angsteinflößend offenbart das Fenster böse Omen. Erster unter Gleichen ist aber die Wald-Kulisse. Mit von der Decke hängenden Ästen und wabbelndem Bodennebel wirkt er zugleich realistisch wie metaphorisch. Die Elemente vermitteln den Eindruck, als würden die Protagonisten über die Wolken einer verkehrten Welt schreiten.
„Faust. Eine Tragödie“ ist ein Schauspiel, das mit Wagnis besticht und zum menschlichen Blick auf das Böse anregt.