Damals wurden keine Grundrechte beschränkt

Spanische Grippe: Historiker Wolfgang Weber im Interview.
Ein Blick in die Geschichte ist immer gut. Selbst wenn wir heutzutage viel aufgeklärter, moderner und technologischer als früher leben – manche Dinge ändern sich kaum oder nie. Der Umgang mit einer viralen Pandemie, gegen die es noch keine Impfung oder Medikamente gibt, ist beispielsweise seit 400 Jahren, seit Bestehen von Aufzeichnungen, derselbe: Es wird versucht, die Übertragungswege zu unterbrechen. Sei es mit großflächigen Lockdowns wie heute, sei es mit dem Absperren von Städten, wie es früher, aber auch heute geschah, sei es mit Abstandhalten zwischen den Menschen. „Das ist die einzige Möglichkeit, bis Heilmittel oder eine Impfung gegen die Krankheit zur Verfügung stehen“, sagt der Dornbirner Historiker und Universitätsprofessor Wolfgang Weber.
Er hält heute in Andelsbuch einen Vortrag über die Grippepandemie 1918 bis 1920 im Bregenzerwald. Dabei streicht er Gemeinsamkeiten und Unterschiede von damals und der Corona-Pandemie heraus. Weber ist überzeugt: „Der vergleichende Blick in die Pandemiegeschichte des 20. Jahrhunderts hätte am Vorabend der Coronapandemie mögliche Handlungsszenarien und alternative Wege aufgezeigt.“ Sie wären zielbewusster und schonender für Mensch und Wirtschaft gewesen, so der Historiker (nähere Infos zum Vortrag im Artikel rechts).

Bereits im Juni 2020 übergab Weber, der auch Politische Bildung lehrt, der Landesregierung ein Papier mit acht Prognosen, die einen vergleichenden historischen Umgang mit der Pandemie ermöglichten. Sie seien jedoch mit dem Argument, man könne die beiden Pandemien nicht vergleichen, zu den Akten gelegt worden, so Weber. Dabei hätten sich diese acht Prognosen bis Herbst 2020 alle bewahrheitet. Im Vortrag heute wird der Zeithistoriker auf die acht Szenarien eingehen, für die NEUE beleuchtet er vier.
Dort, wo das Thema hingehört
Ein großer Unterschied zur Grippepandemie von 1918 bis 1920 sei die Kommunikation gewesen. Auf Bundesebene wurden und werden in der jetzigen Pandemie die Maßnahmen von Politikern kommuniziert. Bei der Grippepandemie hingegen hätten ausschließlich Fachexperten moderiert, kommentiert und Maßnahmen vorgestellt. „Dadurch war das Thema dort, wo es hingehörte, nämlich bei den Experten“, sagt Weber. Auch in der jetzigen Pandemie folgten einige Länder dem Weg von früher – beispielsweise die Schweiz, Deutschland oder Schweden – und ließen die Experten medizinische Statusmeldungen erstatten und kommentieren. „Deswegen war die Kommunikation dort positiver besetzt als bei uns. Die Medizin erklärte, wo Gefahren liegen und wie sie vermieden werden können“, sagt Weber. Ein weiteres Beispiel: Als die Corona-Impfung am Markt war, hieß es, sie wirke vor allem gegen schwere Verläufe und nicht unbedingt gegen eine Ansteckung. Die 3- und 2G-Regelung in Österreich vermittelte jedoch den Eindruck, als Geimpfter stecke man sich nicht an, was schließlich widerlegt wurde. „An diesem Problem sehen wir: Die Politik soll keine medizinischen Maßnahmen kommunizieren. Die medizinische Kommunikation war nämlich immer anders, dort wurde stets davon gesprochen, dass die Impfung vor schweren Verläufen schützt.“

Ein weiterer großer Unterschied zur Grippe-Pandemie seien die Maßnahmen, die unsere bürgerlichen und politischen Rechte betreffen. „Unsere Grundrechte wurden während der Corona-Pandemie eingeschränkt – im März 2020 sogar unbefristet, was verfassungsmäßig eigentlich nicht vorgesehen ist.“ Dabei hätten wir seit 77 Jahren eine starke, gut funktionierende Demokratie, gibt der Historiker zu bedenken. Am Ende des Ersten Weltkriegs und danach, in einer politisch sehr instabilen, teilweise auch revolutionären Zeit, hätte man solche Maßnahmen ebenfalls erwarten können. „Aber der Staat machte das Gegenteil, schränkte keine Grundrechte ein und ermöglichte sogar Massenversammlungen.“ Bei Bedarf sprach er vereinzelt dann doch Verbote aus, jedoch – und das ist wieder ein Unterschied zu heute – nur regional. Damals hätten die Bezirkshauptmannschaften nach örtlichem Bedarf solche Entscheidungen getroffen. „2020 hat Wien für den Gesamtstaat entschieden“, sagt Weber und kommt noch einmal auf das politische System zu sprechen: „Wenn ein Staat eine Demokratie ist, heißt das offenbar nicht zwingend, dass partizipative Lösungen gesucht und alle Menschen daran beteiligt werden.“
Die selbe Ultima Ratio
Was die Grippe- und Coronapandemie gemeinsam haben, ist u.a.: „Sowohl 1918 als auch 2020 war bei der Seuchenbekämpfung die Ultima Ratio: Abschottungen und Lockdowns, Isolation von Kranken, Hygienemaßnahmen für alle wie das Maskentragen. Diese Maßnahmen machen sanitätspolitisch Sinn“, sagt Weber. Bei beiden Pandemien gab es bei Ausbruch keine Medikamente und keine Impfungen. „Deshalb waren die Isolation und die Hygiene das Einzige, was getan werden konnte.“
Nur fünf Monate nach Ausbruch der Spanischen Grippe vermeldete ein österreichischer Arzt in Budapest, er habe einen Impfstoff gefunden. Er impfte 14 Angehörige der Armee, die an der Grippe erkrankt waren, und als sie 24 Stunden danach noch am Leben waren, wurde gefolgert: Die Impfung wirkt. Tatsächlich sollte es noch bis in die 1940er-Jahre dauern, bis wirklich ein Grippe-Impfstoff entwickelt wurde. Dennoch: Im frühen 20., aber auch im frühen 21. Jahrhundert, war die Erwartungshaltung: Wenn es eine Impfung gibt, wird alles gut. „Dabei hat es 1918 länger gedauert, bis alles gut ist, und die Frage ist, ob es bei Corona mit der Impfung und Medikamenten ebenfalls länger dauert, als wir uns vorstellen“, sagt Weber.

Auf die Frage, welche Pandemie besser bewältigt worden ist, antwortet der Zeithistoriker: „Ich würde es nicht an besser oder schlechter messen, sondern an der Effektivität. Dazu ist zu sagen: Man kann es sowohl früher als auch heute nicht beurteilen, weil sich der Virus nicht so gesetzmäßig entwickelt, wie wir es uns vorstellen. Bei allen Pandemien war und ist es ein Wunschdenken von uns Menschen, dass sich ein Virus rational verhält. Egal, wie ein Staat reagiert, Viren sind nicht kontrollierbar, und wir bekommen sie auch bei noch so viel Überwachung nicht in den Griff. Mit einer Impfung jedoch schon.“ Dass Impfungen helfen, sei aus 200 Jahren Medizingeschichte nachzuweisen, so Weber.
Vorträge
Die „Werkstatt Geschichte“ lädt im Rahmen der Vortragsreihe „Krank oder gesund? Eine kleine Vortragsreihe zur Medizingeschichte“ heute, 19.30 Uhr, in den Rathaussaal Andelsbuch. Dr. Georg Sutterlüty referiert über „Wer war Dr. König? Das facettenreiche Leben des Andelsbucher Gemeindearztes (1829-1899)“. Im Anschluss hält Dr. Wolfgang Weber den Vortrag „Ein ungebetener Gast aus Spanien – Die Grippepandemie 1918-1920 im Bregenzerwald“. Dabei entwirft er einen vergleichenden Blick auf die Pandemiepolitik der Gegenwart und ermöglicht Antworten auf drängende Fragen der Gesundheitspolitik.