„Che Guevara wurde als Schüler Glatzkopf genannt“

Che Guevara war ein Schulfreund und der Trauzeuge von Nidia Bonnets Vater. Die 67-jährige Frau lebte in Argentinien, den USA, Venezuela und jetzt in Lustenau.
Nidia Bonnet, eine gepflegte, warmherzig wirkende Frau, sitzt in ihrem Wohnzimmer in Lustenau und hält ein Schwarz-Weiß-Foto. Darauf sind viele junge Burschen und einige Männer zu sehen, alle tragen Anzug und Krawatte. Sie zeigt mit ihrem Ringfinger auf einen Jugendlichen, der in der vordersten Reihe sitzt und sagt: „Das ist Che Guevara.“ Dann schwenkt ihr Finger auf einen Buben in derselben Reihe: „Das ist mein Vater.“ Als das Bild entstanden ist, waren beide 15 Jahre alt und besuchten dieselbe Klasse. Auf der Rückseite des Fotos ist in Handschrift festgehalten, wer die Personen sind. Che Guevara wird hier mit seinem bürgerlichen Namen „Ernesto Guevara“ bezeichnet, und hinter seinem Namen steht in Klammern „El Pelado“. „Das war sein Spitzname und bedeutet ‚der Glatzkopf‘“, erklärt Nidia Bonnet. „Zu der Zeit sagte er, er würde sich die Haare abrasieren, weil eine Glatze viel praktischer wäre, als täglich die Haare zu bürsten. So kam er zu diesem Namen.“

Nidia Bonnet – heute 67 Jahre alt – wurde 1956 in Cordoba/Argentinien geboren. Sie wuchs dort auf, zog als 18-Jährige zum Studium in die USA und übersiedelte 1981 nach Venezuela, wo sie 30 Jahre lang lebte. Dort lernte sie ihren Mann Josef Wdowik (79) kennen, der ebenfalls in dem südamerikanischen Land wohnte und arbeitete. Er wurde in Rankweil geboren, wuchs in Bern auf und studierte dort. Als seine Mutter – eine Lustenauerin mit Nachnamen Bösch – pflegebedürftig wurde, zog er 2011 mit Nidia Bonnet von der venezolanischen Stadt Barquisimeto nach Lustenau.
Damit von Lustenau wieder nach Cordoba und in die 1940er-/1950er-Jahre. Das eingangs erwähnte Foto ist in der Stadt entstanden, die dem Fußball-Österreich wohl ewig in euphorischer Erinnerung bleiben wird. Nidia Bonnets Vater, Gustavo A. Bonnet, und Che Guevara drückten dort seit 1940 gemeinsam die Schulbank des Dean-Funes-Gymnasiums. „Bis sie 18 Jahre alt waren, pflegten sie eine sehr enge Freundschaft. Sie haben gemeinsam gespielt, geangelt, und Che hat meinem Vater schwimmen beigebracht“, erzählt die gebürtige Südamerikanerin. Dann schmunzelt sie und fährt fort: „Sie haben auch zusammen Pfirsiche gestohlen. Sie waren richtige Lausbuben.“
Verbindung riss nicht ab
Nach der Matura trennten sich die Wege der beiden jungen Männer: Während Che Medizin studierte, ließ sich Nidia Bonnets Vater auf einer anderen Fakultät zum Bauingenieur ausbilden. Die Verbindung riss jedoch nicht ab. So bezeugte der spätere Revolutionsführer 1952 als Trauzeuge die Ehe der Eltern von Nidia Bonnet.
Im selben Jahr sollte Che Guevara seine Motorradreise durch Südamerika unternehmen, die für ihn tiefgreifend war und seine politische Überzeugung prägte. Er lud den Vater der Wahl-Lustenauerin ein, an der Reise teilzunehmen. Dieser sagte jedoch ab, weil: „Zum einen entwickelte Che Guevara zu der Zeit seine revolutionären Ideen, die mein Vater nicht teilte. Zum anderen musste mein Vater studieren und arbeiten, weil er eine Familie gründen wollte. Er hatte keine Zeit und kein Geld für diese Reise.“ Das Verhältnis der beiden Schulfreunde kühlte in den folgenden Jahren ab, nach seiner Motorradreise lebte Che Guevara in verschiedenen, lateinamerikanischen Ländern. Nidia Bonnet hat den Guerillaführer, Autor und Arzt nie kennengelernt.

Che Guevara war maßgeblich daran beteiligt, Kuba in eine kommunistische Diktatur umzuwandeln. Wie in weiteren Ländern Südamerikas herrschte in jener Zeit auch in Nidia Bonnets Heimatland eine Diktatur, sie wuchs in diesen Jahren auf. „Es waren instabile und sehr unsichere Zeiten“, berichtet sie. „Die Guerillas und die Paramilitärs der Regierung bekämpften sich.“ Viele Menschen schliefen auf dem Boden auf Matratzen, damit sie im Fall, dass das Haus mit Maschinengewehren beschossen wurde, nicht in der Ziellinie lagen. Manchmal beschützten Bodyguards das Haus der Familie und die damals junge Frau: „Wenn ich mit dem Bus zur Schule fuhr, folgten sie mir. Ich konnte zwar tun, was ich wollte, aber ich war unter ihrer Beobachtung.“
Nidia Bonnet erzählt in diesem Zusammenhang auch von Studentengruppen, die Handzettel gegen die Regierung verteilten. Manchmal kamen Militärs zu den Häusern von Studenten, die unter Verdacht standen, Urheber dieser Handzettel zu sein. „Sie wurden verhaftet oder sind verschwunden. Es sind sehr viele junge Menschen verschwunden“, sagt Nidia Bonnet.
Im Jahr 1974, als sie 18 war, verliebte sie sich in einen US-Amerikaner und zog zu ihm nach Pittsburgh, wo sie weiter Biochemie studierte, aber vor Studienabschluss Mutter zweier Töchter wurde. „Meine Eltern ließen mich als junge Frau wegen der instabilen Lage in Argentinien leichter gehen“, schlägt sie noch einmal einen Bogen zur Diktatur in ihrer ersten Heimat.
Dritte Heimat
Nach den USA wurde Venezuela die dritte Heimat für die polyglotte Frau. Auch bei diesem Schritt spielte die politische Lage in Argentinien mit: Die US-amerikanische Firma, für die ihr Vater als CEO in Cordoba arbeitete, schloss wegen der Instabilität in Argentinien den dortigen Standort und bot dem Vater an, nach Venezuela zu ziehen. Dieses Angebot nahm er an. Als Nidia Bonnet sich in den USA hatte scheiden lassen und ein neues Zuhause suchte, dockte sie Anfang der 1980er-Jahre bei ihren Eltern in Venezuela an.

Dort lehrte sie zuerst CEOs von Industrieunternehmen englische Konversation. Danach gründete sie ihren eigenen Blumenladen, für den ihre Mutter den Grundstein gelegt hatte. 27 Jahre lang sollte sie die Geschäftsführung innehaben und dabei 15 Angestellte leiten. Heute – im 40. Jahr, seit er im Besitz der Familie ist –, führt ihn Nidia Bonnets Tochter. „Es ist eines der größten Blumengeschäfte auf der Westseite von Venezuela“, erklärt die gebürtige Argentinierin. Bis 2022 war sie Präsidentin der Vereinigung der Blumenunternehmer von Lateinamerika und Spanien und organisierte mit ihrem Team, Tagungen in Mexiko, der Dominikanischen Republik oder in Las Vegas.

Josef Wdowik – der Schweiz-Österreicher – war wegen der Liebe nach Venezuela ausgewandert, er war zu dem Zeitpunkt, als er Nidia Bonnet kennenlernte, aber von der Frau geschieden. Der selbstständige Unternehmer im Bauwesen und die Inhaberin des Blumengeschäftes heirateten vor über 20 Jahren in Venezuela, verlegten ihren Lebensmittelpunkt jedoch – wie bereits erwähnt – vor zwölf Jahren nach Vorarlberg. Neben der Pflege der Mutter des heute 79-Jährigen bewog das Paar vor allem die Instabilität in dem südamerikanischen Land zu diesem Schritt. „Wir wurden bedroht und überfallen“, gibt Josef Wdowik einen Einblick in die schwerwiegendsten Vorfälle.

Damit noch einmal zu Che Guevara, der am 9. Oktober 1967 erschossen wurde. Nidia Bonnets Vater, der am 22. Jänner 2022 gestorben ist, konnte die Bewunderung, die viele Menschen für den Revolutionsführer hegten, nicht nachvollziehen. „Er sagte immer: Che war besessen. Er war zwar ein guter, sehr intelligenter Mann, der die Armut und Ungleichheit ausmerzen wollte. Aber er nutzte seine Intelligenz auf dem falschen Weg, er verübte Anschläge und folterte Menschen. Mein Vater war der Meinung, dass Che Guevaras Ziele auf andere Art erreicht werden sollten.“
Dann erzählt die Tochter des ehemaligen Freundes von Che Guevara noch eine Geschichte: „Che war charismatisch und hübsch. Als er an einer Party in der US-Botschaft teilnahm, verliebte sich die Tochter des Botschafters in ihn und bot ihm an, mit ihr im Privatflugzeug nach Miami zu fliegen. Dort angekommen, kam er ins Gefängnis, weil er kein Visum für die USA besaß. Vielleicht stammt sein Anti-Amerikanismus auch von dieser Geschichte.“
Blumen stehen lassen
Nach einem Leben mit einigen Neuanfängen, Spannungen und viel Arbeit lebt Nidia Bonnet heute recht ruhig in Lustenau. Sie ist in Pension, arbeitet aber ehrenamtlich für Radio Proton. Jeden Mittwoch, von 20 bis 21.30 Uhr, moderiert sie die Sendung „La Hora Latina“, in der über die Aktivitäten und Probleme spanischsprachiger Menschen in und um Vorarlberg berichtet wird.
In Vorarlberg gefällt es ihr sehr gut: „Ich habe meine Freiheit wieder entdeckt. Hier ist es so sicher“, sagt sie. „Auch in der Nacht kann ich alleine durch die Straßen gehen.“ Die gebürtige Südamerikanerin ist zudem begeistert davon, dass die Menschen in Vorarlberg Vertrauen ineinander haben. In Venezuela wäre es zum Beispiel nie möglich gewesen, was hier Usus ist: Die Blumen eines Blumengeschäftes in der Nacht vor dem Geschäft stehen zu lassen. „Ich bin ein Fan dieser Gesellschaft. Man muss daran arbeiten, dass sie so bleibt.“