Lokal

„Veränderungen sind zunächst einmal gewissermaßen ‚asozial‘“

26.12.2023 • 17:38 Uhr
Der Theologe Walter Schmolly ist seit 2015 Direktor der Caritas Vorarlberg.<br><span class="copyright">Klaus Hartinger</span>
Der Theologe Walter Schmolly ist seit 2015 Direktor der Caritas Vorarlberg.
Klaus Hartinger

Caritas-Vorarlberg-Direktor Walter Schmolly zieht Bilanz über das ablaufende Jahr und gibt einen Ausblick auf das neue.

Die Grundbedürfnisse sind für viele Menschen nur mehr schwer finanzierbar. Das war nicht nur aufgrund dessen vermutlich auch für die Caritas ein herausforderndes Jahr. In welchen Bereichen habe Sie 2023 am meisten zu tun gehabt?
Walter Schmolly: Menschen mit weniger Ressourcen sind durch die Krisen der letzten Jahre und durch die Teuerung stark unter Druck geraten und brauchen Entlastung. Bei unserer Beratungsstelle Existenz und Wohnen kommt das zuerst an. Dort haben in den ersten drei Quartalen des Jahres im Verhältnis zum Vorjahr um sieben Prozent mehr Menschen um Unterstützung angefragt. Das waren knapp 2700 Personen. Wobei in Österreich von Bund und Ländern viel Geld in die Hand genommen wurde, um die Teuerung auszugleichen.

Hat das nichts genützt?
Schmolly: Doch, das hilft und kommt an. Trotzdem gibt es eine Gruppe von Haushalten, Familien, die nicht über die Runden kommen. Das hat damit zu tun, dass Haushalte, Familien mit kleinen Budgets von der Teuerung noch einmal stärker betroffen sind.

Um was für Menschen handelt es sich da?
Schmolly: Zum Beispiel um Personen mit Mindestpension. Menschen, die in schlecht isolierten Wohnungen leben, mit Strom heizen. Eine weitere Gruppe sind Alleinerziehende oder Mehrkind-Familien oder auch Langzeit-Arbeitslose. Auch für Menschen, die von Sozialhilfe leben, ist es sehr eng.

Sind die Klientinnen und Klienten der Caritas in den letzten Jahren andere geworden?
Schmolly: Da gibt es eine Verschiebung. Die Zahl der anonymen Anfragen steigt. Das sind Menschen, die es noch nicht so richtig gewohnt sind, bei einer Sozialeinrichtung vorzusprechen, sondern sich zunächst einmal vortasten. Zugleich melden sich deutlich mehr Menschen das erste Mal bei einer Beratungsstelle als früher. Es sind Menschen auf Unterstützung angewiesen, die es bisher so nicht waren. Und noch etwas beschäftigt uns sehr.

Was?
Schmolly: Die Kinder in diesen Familien. Deren Zahl steigt deutlich. In den Familien, die heuer in den Beratungsstellen vorgesprochen haben, waren mehr als 1800 Kinder. Das ist gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung um 19 Prozent.

Wie erklären Sie sich diesen massiven Zuwachs?
Schmolly: Familien mit mehreren Kindern sind armutsgefährdeter und in Österreich gibt es eine Vererbung von Armut.

Walter Schmolly

Geboren 1964, aufgewachsen in Bizau, Stu-

dium der Mathematik und Theologie. 1994

bis 1998 Assistent an der Theologischen

Fakultät Innsbruck. 1999 bis 2005 Leiter des

Katholischen Bildungswerks Vorarlberg.

2005 bis 2015 Leiter des Pastoralamtes der

Diözese Feldkirch. Seit 2015 Direktor der

Caritas Vorarlberg. Verheiratet, drei Kinder,

wohnhaft in Alberschwende.

Haben sich die Bedürfnisse der Menschen geändert?
Schmolly: Es geht um Grundbedürfnisse und da spiegelt sich auch, was durch öffentliche Unterstützungen abgefedert ist. Das heißt: Wir sehen zum Beispiel den stärksten Anstieg und Nachfrage bei Lebensmittelgutscheinen. Da gibt es keine öffentliche Hilfe.

Hat sich die Arbeit der Caritas verändert?
Schmolly: Die Caritas feiert 2023/24 ihr 100-Jahr-Jubiläum. Es gibt Themen, die uns seit 100 Jahren begleiten, wie etwa die Unterstützung von obdachlosen Menschen, von fremden oder suchtkranken. Manche Themen verschieben sich, manche kommen neu dazu. Das Engagement für Kinder und Jugendliche beispielsweise ist noch zentraler geworden, vor allem auch durch die Lerncafés und die Bemühungen, Kindern einen Ausstieg aus dem Zirkel der Armutsvererbung zu ermöglichen. Ein anderes Thema, das uns zunehmend intensiver beschäftigt, ist der soziale Zusammenhalt.

Hat sich da was verändert?
Schmolly: Das Miteinander in unserer Gesellschaft ist kein Selbstläufer. Wir müssen da heute initiativ sein, weil viele Entwicklungen dem sozialen Zusammenhalt einfach nicht zuträglich sind.

Welche?
Schmolly: Das beginnt bei den Wohnformen. Es gibt heute in Österreich doppelt so viele Ein-Personen-Haushalte wie vor 25 Jahren. Institutionen, die früher Zusammenhalt ein Stück weit organisiert haben, wie Kirchen, Parteien, Gewerkschaften schwächeln. Die digitalen Kommunikationsformen, die damit verbundene Freizeitgestaltung, die sich stärker in den eigenen vier Wänden abspielt, stärken den sozialen Zusammenhalt ebenfalls nicht. Einsamkeit wird zwischenzeitlich ja auch als gesundheitliche und politische Herausforderung wahrgenommen.

Wie kann die Caritas dem entgegenwirken?
Schmolly: Das ist ein neues Thema und durchaus ein Lernfeld. Den sozialen Zusammenhalt kann man ja nicht über eine neue Dienstleistung unterstützen, wie das im Sozialbereich im Normalfall bei neuen Herausforderungen passiert. Das geht hier nicht. Es braucht andere Wege.

Das heißt?
Schmolly: Es beginnt bei einer öffentlichen Kommunikation, die Empathie und Engagement wertschätzt, geht über Freiwilligenengagement, Nachbarschaftlichkeit, Aufmerksamkeit füreinander bis hin zu ganz konkreten Initiativen. Wir arbeiten zum Beispiel mit den Projekten Lebendige Nachbarschaft oder herz.com gemeinsam mit Gemeinden an dem Thema.

An was für positive und negative Erlebnisse aus dem ablaufenden Jahr erinnern Sie sich?
Schmolly: Starke Erfahrungen für die Caritas sind immer Katastrophen, egal wo sie passieren. Das Erdbeben in der Türkei war heuer ein solches Ereignis. Positive Erfahrungen gibt es zum Glück viele. Das ist das Schöne, wenn man in einer Sozialeinrichtung arbeitet: Soziale Arbeit wirkt und verändert Lebenssituationen und Gemeinschaften. Das ist im Caritas-Café ebenso erfahrbar wie in den Lerncafès und an vielen anderen Orten.

Die Arbeit wird Ihnen auch 2024 nicht ausgehen. Was haben Sie da für Schwerpunkte?
Schmolly: Man muss mit Prognosen ein bisschen vorsichtig sein, weil wir schon öfters erfahren haben, dass die Welt über Nacht eine andere werden kann. Aber es zeichnen sich drei Schwerpunkte ab.

Welche?
Schmolly: Nachdem die Krisen nicht über Neujahr verschwinden werden, wird es ein Thema bleiben, wie wir Menschen, die es alleine nicht schaffen, entlasten können – mit dem besonderen Fokus auf Kindern.

Ein zweiter Punkt?
Schmolly: Der zuvor erwähnte soziale Zusammenhalt. 2024 ist ein Wahljahr und da besteht immer auch die Gefahr, dass das ein Stück weit auf Kosten des Zusammenhalts geht. Politiker haben da eine große Verantwortung. Wir werden Themen wie die ökologische Transformation ohne einen funktionierenden sozialen Zusammenhalt nicht auf die Reihe bekommen. Denn wir dürfen über all den Alltagssorgen und -nöten nicht vergessen, dass wir als Gesellschaft auch eine Reihe von großen Veränderungen bewältigen müssen.

Welche?
Schmolly: Dass wir uns einen Lebensstil und eine Art zu wirtschaften aneignen, die nicht über die sozialen und ökologischen Ressourcen gehen. Wir sind eine alternde Gesellschaft, in der sich für die Sorgearbeit ganz neue Herausforderungen stellen, sei es am Lebensende aber auch am Lebensanfang. Zudem müssen wir das Miteinander von Globalität und Regionalität und alles, was damit verbunden ist, gut lösen. Das sind alles Themen, die auch einen sozialen Kern haben, weil alle diese Veränderungen zunächst einmal gewissermaßen „asozial“ sind.

Inwiefern?
Schmolly: Nehmen wir den Klimawandel. Er trifft Menschen mit weniger Ressourcen zuerst und härter. Wir beobachten das schon lange in unserem Partnerland Äthiopien. Aber das gilt auch bei uns. Es macht einen großen Unterschied, ob man in einem Hitzesommer in einem Haus mit Garten und Klimaanlage lebt oder in einer schlecht isolierten, überbelegten Dachwohnung. Alle Krisen treffen Menschen mit weniger Ressourcen stärker. Die Frage ist, wie unterstützt man als Sozialeinrichtung solche Veränderungen. Das wird uns in den nächsten Jahren intensiver beschäftigen.