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Selma Mitteldorf: Die tragische Geschichte der “Oberfürsorgerin von Vorarlberg”

29.04.2024 • 20:00 Uhr
Gespräch mit altem und neuem Obmann der Malin-Gesellschaft Werner Bundschuh und Johannes Spies
Der Geschichtelehrer und Obmann der Malin-Gesellschaft Johannes Spies.
Klaus Hartinger

Sie war 20 Jahre lang in der Dornbirner Säuglingsfürsorge tätig und die „Oberfürsorgerin von Vorarlberg“: Selma Mitteldorf, die sich 1938 das Leben nahm.

Zwei Jahrzehnte lang war Selma Mitteldorf in der Säuglingsfürsorge in Vorarlberg tätig – einige Zeit davon als „Oberfürsorgerin von Vorarlberg“. Am 21. März 1938, nicht ganz zwei Wochen nach dem „Anschluss“, erhängte sich die damals 51-jährige Tochter einer jüdischen Mutter in ihrer Wohnung in Dornbirn. Ihr Name geriet in Vergessenheit.

Vor rund zwei Jahren stieß der Obmann der Johann-August-Malin-Gesellschaft und Dornbirner Geschichtslehrer Johannes Spies in einem Buch des Historikers Meinrad Pichler auf einen Satz zu Selma Mitteldorf und ihre Todesanzeige. Nachdem das Lernen aus Biographien sehr hilfreich ist, wie der Pädagoge aus Erfahrung weiß, wollte er mehr über die Frau wissen. Eine Nachfrage bei Pichler ergab allerdings, dass es keine Informationen zu ihr gebe.

Vortrag

Vortrag von Johannes Spies: „Selma Mitteldorf – ‚Oberfürsorgerin von Vorarlberg‘“. Johannes Spies versucht, die Lebensgeschichte von Selma Mitteldorf zu rekonstruieren und beleuchtet ihre Tätigkeit in der Tuberkulose- und Säuglingsfürsorge. Freitag, 3. Mai, 19 Uhr, Vorarlberg Museum, Bregenz. Eintritt frei.

Johannes Spies machte sich daraufhin im Landesarchiv und im Dornbirner Stadtarchiv auf die Suche – mit eher geringem Erfolg. „Die Quellenlage ist schon sehr überschaubar“, wie er es formuliert. Auch Fotos von ihr konnte er (noch) nicht finden. Einzelne „Lichtblicke“ (Spies) gab es aber, vollständige Biographie wurde keine daraus. Eine große Hilfe waren Unterlagen der damaligen Tuberkulose- und Säuglingsfürsorge, in denen die Mitarbeiterinnen beschrieben wurden. Daraus konnte Spies den Lebenslauf von Mitteldorf fragmentarisch nachvollziehen.

Geboren wurde Selma Mitteldorf 1887 in Hannover. Der römisch-katholische Vater Josef war Weinhändler, die Mutter Minna Rebeck geborene Polak stammte aus der Hamburger jüdischen Gemeinde. Die Tochter wurde evangelisch getauft. Nach einer Ausbildung zur Krankenpflegerin in Berlin, war Mitteldorf in mehreren Einrichtungen tätig. Während des Ersten Weltkriegs pflegte sie in Troppau (Opava) im heutigen Tschechien Soldaten.

Umzug nach Vorarlberg

In der Folge kam Selma Mitteldorf an die Reichsanstalt für Mutter- und Säuglingsfürsorge nach Wien und Anfang Dezember 1918 nach Vorarlberg. Der Umzug erfolgte auf Initiative der Familie Hämmerle des gleichnamigen Dornbirner Textilunternehmens. Theodor Hämmerle leitete damals die Wiener Niederlassung von F.M. Hämmerle. Dessen Frau und Tochter wollten laut Spies die Innovationen in der Säuglingsfürsorge, die sie in Wien gesehen hatten, auch nach Vorarlberg bringen.

Polizeibericht Selma Mitteldorf
Der Polizeibericht vom März 1938, in dem von „schwermütiger Veranlagung“ die Rede ist. VLA, BH Feldkirch

Selma Mitteldorf zog damals gemeinsam mit ihrer Arbeitskollegin Olga Semaka nach Dornbirn. Für Semaka war Vorarlberg nicht Neuland, erzählt der Obmann der Malin-Gesellschaft. Deren Vater war als Notar in Feldkirch tätig und wurde auch dort begraben. Spies vermutet, dass Semaka die treibende Kraft für den Umzug war und Mitteldorf mit ihrer Freundin mitging. Die beiden Frauen waren in den folgenden Jahren immer an derselben Dornbirner Adresse gemeldet: ab 2. Dezember 1918 in der Marktstraße 45, ab 2. April 1919 in der Schulgasse 1 und ab 25. Juli 1923 in der Marktstraße 71.

In den folgenden zwanzig Jahren war Mitteldorf in der Säuglings- und Tuberkulosefürsorge tätig. Sie wurde zur „Oberfürsorgerin von Vorarlberg“, was auch eine inspektorische Tätigkeit an verschiedenen Orten Vorarlbergs zur Folge hatte. 1929 starb Olga Semaka. Mitteldorfer gab die Todesanzeige in Auftrag und bezahlte sie. In der Nacht vom 21. auf den 22. März 1938 nahm sich Selma Mitteldorf in ihrer Wohnung in Dornbirn das Leben, indem sie sich erhängte.

Polizeibericht Selma Mitteldorf
Ausschnitt aus dem Polizeibericht vom Juli 1938, in dem auch der Suizid von Selma Mitteldorf thematisiert wird. VLA, BH Feldkirch

Zu diesem Todesfall gibt es zwei Polizeiberichte. Während im einen von einer „schwermütigen Veranlagung“ als Grund die Rede ist, wird im anderen angeführt, dass „sie fürchtete, im neuen Staat als Jüdin erkannt zu werden“. Für Spies ist eher der zweite Grund plausibel: „Die beste Freundin ist tot, sie ist allein, der Obmann der Säuglingsfürsorge ist ein überzeugter Nationalsozialist. Das Umfeld entwickelt sich für Selma Mitteldorf immer mehr zur Bedrohung. Vermutlich war der Suizid eine Reaktion darauf.“ Warum sie etwa nicht versucht habe, in die Schweiz zu flüchten, was damals noch leicht möglich gewesen wäre, wisse man nicht.

Todesanzeige Selma Mitteldorf
Die Todesanzeige von Selma Mitteldorf im Vorarlberger Tagblatt vom 23. März 1938. Anno

Selma Mitteldorf wurde auf dem Dornbirner Friedhof Markt begraben. Das Grab gibt es nicht mehr, den Grabplatz habe man mittlerweile aber gefunden, informiert Spies. Am Friedhof ist im November eine kleine Veranstaltung geplant, erzählt er. Am Freitag wird er nun aber im Vorarlberg Museum einen Vortrag über Selma Mitteldorf halten (siehe oben). Ihre Lebensgeschichte ist für Spies für zwei Bereiche relevant: die Medizingeschichte und die Frauengeschichte. „In beiden gibt es noch einiges zu erforschen.“