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Sind filmreife Verfolgungsjagden der Polizei sinnvoll?

16.06.2024 • 08:00 Uhr
20240530BludeschPKWVerfolgungsjagd
Erst kürzlich musste in Rankweil die Verfolgung eines Autofahrers aufgenommen werden. Gestoppt werden konnte der rabiate Lenker erst in Bludesch (Bild links).Hofmeister

Immer wieder liefert sich die Exekutive mit flüchtenden Autolenkern Verfolgungsjagden, die mit einem hohen Gefährdungspotential einhergehen. Ist das sinnvoll und notwendig?

Als vor zwei Wochen ein 40-jähriger Mann, der zuvor beim LKH Rankweil seinen Kleinwagen geparkt und mit Steinen gedroht hatte, der anwesenden Polizei davonfuhr, wurde er von insgesamt 13 Polizeistreifen und dem Polizeihubschrauber verfolgt, bzw. fuhren diese ihm entgegen oder errichteten Straßensperren. Zwei Straßensperren konnten den Lenker nicht stoppen. Nach mehr als zehn Kilometern landete er beim Versuch, einen überholenden Polizeiwagen abzudrängen, samt seinem Kleinwagen in Bludesch. Am Ende stand der Kleinwagen in einem Bach, drei Polizeifahrzeuge waren demoliert und vier Polizeikräfte verletzt. Im Sommer letzten Jahres fand so eine wilde Verfolgungsfahrt auch durch den ganzen Vorderwald statt, sogar mit Schussabgaben auf die Reifen des Pkw der flüchtenden Frau, und erst in Alberschwende konnte sie nach circa 40 Kilometern gestoppt werden.

Die vorbestrafte Frau „lebte“ in einem unterschlagenen Renault Zoe und sei in Panik geraten, als sie noch auf der deutschen Seite nahe Oberstdorf von der deutschen Polizei kontrolliert wurde. Bei Gericht gab sie an, gemeint zu haben, dass die Polizei irgendwann aufgebe. Sie überholte auf ihrer Flucht sehr riskant und fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit – die Polizeifahrzeuge im Nacken – durch mehrere Vorderwälder Gemeinden inklusive Alberschwende. Noch dramatischer endete im November 2021 eine Verfolgungsfahrt eines 15-jährigen Mopedfahrers in Salzburg, der vom verfolgenden Polizeifahrzeug nach einem Sturz erfasst wurde und verstarb. Der Polizist wurde dann wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt und muss nun mit dem Geschehenen weiterleben.

Die „Nachfahrt“ der Polizisten sei zwar gesetzesgemäß gewesen, um die Identität des Flüchtenden festzustellen, zudem sei die Fahrweise des Flüchtenden laut Augenzeugen riskant gewesen, und er hätte andere Verkehrsteilnehmer gefährden können, aber der Abstand der Verfolger war zu gering und führte zum tödlichen Unfall. Der Opferanwalt meinte laut Bericht des „Standard“, dass der Bursche, wenn er nicht derart verfolgt worden wäre, nicht so schnell gefahren wäre und auch nicht gestürzt wäre. Der Unfall wäre mit mehr Sicherheitsabstand vermeidbar gewesen, erklärte der Verkehrsunfallsachverständige im Bericht.

Erhöhte Gefahr?

Unzweifelhaft gehören Verkehrssünder, die eine Anhaltung missachten, gestoppt und nach polizeilichen Maßnahmen und Ermittlungsarbeit vor ein Gericht. Aber die Frage, die sich den polizeilichen Laien stellt, ist jene, ob solche „Verfolgungsjagden“ dabei sinnvoll sind oder sogar das Risiko von Unfällen mit unbeteiligten Verkehrsbeteiligten erhöhen. Denn der Fluchtinstinkt ist ein Urinstinkt, so wie der Jagdinstinkt, und der könne schon einmal erwachen, erzählte ein sehr erfahrener Polizist.
Ganz abgesehen davon, dass sich neben der flüchtenden Person auch

„Oberstes Ziel ist stets die Nichtgefährdung von unbeteiligten Personen“

Peter Rüscher,
Stellvertretender Leiter der Landesverkehrsabteilung

Polizeipersonal in Gefahr bringt und Sachschäden in Kauf genommen werden, stellt sich die Frage, ob Flüchtende nicht erst oder noch mehr durch die Verfolgung zu riskanten Manövern verleiten lassen und dadurch auch Unbeteiligte in Gefahr bringen. Vor allem gilt dies für Menschen in psychischen Ausnahmesituationen oder nach Alkohol- oder Drogenkonsum, die dadurch sogar fahrbeeinträchtigt sind. Oder gäbe es bessere, vor allem weniger risikoreiche Möglichkeiten? Nachgefragt haben wir beim stellvertretenden Leiter der Landesverkehrsabteilung der Landespolizeidirektion für Vorarlberg, Oberstleutnant Peter Rüscher.

Dienstanweisung

Der Begriff „Verfolgungsjagd“ wird einmal vorneweg abgelehnt, es handle sich um eine Nachfahrt zur Sicherstellung der verkehrs-, sicherheits- oder kriminalpolizeilichen Aufgabenerfüllung, Gefahrenabwehr und Gefahrenprävention. Bei der Missachtung einer Anhaltung müsse immer von einem gesetzeswidrigen Grund für dieses Verhalten ausgegangen werden, und die Polizei ist zur Klärung der maßgeblichen Umstände verpflichtet, auch wenn anfangs oft nicht klar ist, warum der Lenker oder die Lenkerin die Anhaltung missachtet hat. In der Regel werden neben der Nachfahrt umliegende Dienststellen per Funk verständigt und hinzugezogen. Zur Sicherstellung der Anhaltung ist auch Zwang möglich, aber immer nur verhältnismäßig.

Oberstes Ziel sei stets die Nichtgefährdung von unbeteiligten Personen und der Polizeikräfte. Da könne es durchaus Sinn machen, eine Nachfahrt abzubrechen, um die Situation nicht eskalieren zu lassen, etwa wenn die flüchtende Person in Panik gerät und durch die Nachfahrt erst recht andere, die Einsatzkräfte und sich selbst gefährdet. Diese Entscheidung zu treffen, obliegt den Einsatzkräften und muss wohl überlegt und begründet sein.

Alternative Nagelband

Die deutsche Polizei hat mehreren Berichten zufolge sogenannte Nagelbretter im Einsatz. Die werden in einem Koffer mit wenigen Kilogramm mitgeführt, kosten etwa 2000 Euro und sind dank technischer Raffinesse relativ sicher anwendbar, weil das Fahrzeug noch spurstabil bleibt, bis der Luftdruck in den Reifen gänzlich entwichen ist. Solche Nagelbänder sind laut Rüscher seit einigen Jahren auch in Vorarlberg bei der Cobra, den „Schnellen Reaktionskräften“ und der Landesverkehrsabteilung vorhanden, wurden aber bisher nie eingesetzt.

Der Einsatz sei taktisch und aus Gründen der Sicherheit unbeteiligter Verkehrsteilnehmer herausfordernd, und vor allem handle es sich meist um Akutsituationen, bei denen dieses Einsatzmittel sehr schnell unmittelbar vor Ort verfügbar sein müsste. Für den Einsatz dieser Systeme ist eine spezielle Ausbildung der dafür berechtigten Polizeiorgane notwendig, aber in Zukunft sollen alle Polizeiinspektionen in Vorarlberg mit derartigen Systemen ausgestattet sein. Und zu guter Letzt sei es noch einmal gesagt: Eine Flucht ist fast immer aussichtslos, das Register an möglichen Straftaten und die Strafen werden bei einer Flucht immer länger und gravierender, Sachschäden sind zu ersetzen, und sollten Menschen auf dieser Flucht zu Schaden kommen, müssen die Verursacher damit fertig werden.

Auch bei der Polizei, wie der Fall in Salzburg dramatisch aufzeigte. Besonnenheit, Umsicht und verantwortungsvolles Agieren sind gefordert – auf beiden Seiten. Da kann auch einmal ein Abbruch der Verfolgung Sinn machen. Und wer weiß, vielleicht kommt beim nächsten Fluchtversuch ein Nagelband zum Einsatz mit dem Ergebnis von vier platten Reifen und einem gefassten Flüchtenden.

Von Kurt Bereuter