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“Es gab sehr viele Vorurteile, die heute noch virulent sind”

28.07.2024 • 16:00 Uhr
"Es gab sehr viele Vorurteile, die heute noch virulent sind"
Severin Holzknecht hat ein Buch über Roma und Sinti im Bodenseeraum geschrieben.
Dietmar Stiplovsek

Am 1. August findet in Bregenz eine ­Veranstaltung zum Gedenktag an den NS-Völkermord an Roma und Sinti statt. Mit dabei ist der Vorarlberger Historiker Severin Holzknecht

Sie haben sich vor vier Jahren in einem Buch mit Roma und Sinti im Bodenseeraum im 20. Jahrhundert befasst. Warum dieses Thema?
Severin Holzknecht: 2017 hat das Landesmuseum eine größere Ausstellung über die Geschichte der Roma und Sinti in Vorarlberg realisiert. Ich habe damals die Fachrecherche in den Archiven durchgeführt. Da hat sich so viel Material angesammelt, dass ich mir gedacht habe, da könnte man ein kleines Buch darüber schreiben. So ist das entstanden.

So klein war das Buch mit seinen 270 Seiten dann nicht. Wie viele Sinti und Roma gab es in der Vergangenheit in Vorarlberg?
Holzknecht: Soweit wir wissen, waren Roma und Sinti nie in größerem Ausmaß in Vorarlberg ansässig. Das hat sich erst mit dem Abkommen mit dem ehemaligen Jugoslawien geändert, mit dem Arbeitskräfte nach Österreich gekommen sind. Auch dort existierte Antiziganismus (Rassismus in Hinblick auf „Zigeuner“, Anmerkung) und daher wurde versucht, möglichst viele Roma loszuwerden und nach Österreich zu schicken. Viele, die in den vergangenen Jahrzehnten in Vorarlberger Volksschulen waren, sind sehr wahrscheinlich unwissentlich mit dem einen oder anderen jugoslawischen Roma zur Schule gegangen.

Zur Person

Severin Holzknecht
Geboren am 10. Dezember 1987 in Lustenau. Aufgewachsen in Schwarzach. Volks- und Hauptschule Schwarzach, BORG Egg.
Studium Geschichtswissenschaften an der Universität Innsbruck, Promotion 2017.
Freischaffender Historiker und Bibliothekar. Lebt in Schwarzach.

Wie war damals das Verhältnis der Bevölkerung zu dieser Gruppe?
Holzknecht: Negativ, aber neugierig. Es gab sehr viele Vorurteile, die auch heute zum Teil noch virulent sind. Das Stereotyp des Kindsraubs zum Beispiel ist ein klassisch auf Roma gemünztes Klischee. Bei den Kindern, die von ihnen „geraubt“ wurden, handelte es sich allerdings um die eigenen Kinder. Der Staat hatte versucht, die Kinder in Pflegefamilien oder Heime zu stecken, um sie zu „zivilisieren“. Das haben die Familien natürlich nicht einfach so hingenommen, sondern die Kinder zum Teil zurückgeholt. Dass sie fremde Kinder rauben, ist meines Wissens nie vorgekommen – wozu auch?

Und neugierig?
Holzknecht: Roma haben in dieser strengen bürgerlichen Gesellschaft, die damals existierte, dieses romantisierte Leben der Freiheit, der Ungezwungenheit, des sich Auslebens verkörpert. Es gab diese positiv konnotierten Vorurteile, aber auch die negativen. Und ab dem späten 19., Anfang 20. Jahrhundert entwickelte sich dann der „klassische“ Rassismus.

"Es gab sehr viele Vorurteile, die heute noch virulent sind"

Warum?
Holzknecht: Viele Roma unterscheiden sich äußerlich von der Mehrheitsbevölkerung und wurden aus diesem Grund teils als minderwertig angesehen, was allerdings in Bezug auf den Nationalsozialismus zu einer Problematik führte.

Inwiefern?
Holzknecht: Nationalsozialisten waren, wie wir wissen, sehr auf das „Ariertum“ fixiert. Da die Roma ursprünglich aus Indien kamen, waren sie automatisch „Arier“, was dazu führte, dass sie offiziell nicht aus rassischen Gründen verfolgt wurden, sondern aus polizeilichen, als sogenannte „Berufskriminelle“ oder als sogenannte „Asoziale“. Das war dann vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg von Bedeutung. Es wurde ihnen nicht umgehend der Opferstatus zuerkannt. Von 11.000 registrierten Roma und Sinti in Österreich überlebten rund 9000 den Nationalsozialismus nicht.

"Es gab sehr viele Vorurteile, die heute noch virulent sind"
Roma und Sinti hatten keine Lobby, sagt der Historiker. Stiplovsek

Sie waren auch eine NS-Opfergruppe, die lange nicht beachtet wurde. Warum?
Holzknecht: Das hat mehrere Gründe. Erstens versuchten die Behörden, die ja nach 1945 nicht einen derart starken Bruch erlebt hatten, wie man das heute gerne glauben würde, die antiziganische Politik von vor 1938 weiterzuführen. Österreich hatte damals schon ein relativ rigides Vorgehen gegen Roma und Sinti praktiziert. Das funktionierte dann so allerdings nicht, weil sich die Alliierten dagegen aussprachen. Die Vorurteile verschwanden jedoch nicht. Entsprechend wurden Roma auch später strukturell benachteiligt.

Wie?
Holzknecht: Vor einigen Jahren hat im Vorarlberg Museum Stefan Horvath aus dem Burgenland, aus Oberwart, einen Vortrag gehalten. Er ist der Vater eines der vier von Franz Fuchs Ermordeten. Er hat erzählt, dass er als junger Mann eine Aufnahmeprüfung für eine höhere Schule gemacht hatte. Er war erster, wurde aber nicht aufgenommen. Diese strukturellen Benachteiligungen haben sich teils bis heute durchgezogen.

"Es gab sehr viele Vorurteile, die heute noch virulent sind"

Wie war der Status von Roma und Sinti innerhalb der anderen NS-Opfer?
Holzknecht: Ihr Problem war, dass sie keine Lobby hatten. Die politisch Verfolgten hatten ihre Gesinnungsgemeinschaften, die Juden hatten ihre Glaubens- und Schicksalsgenossen aus anderen Ländern und in Österreich. Bei Roma und Sinti war das nicht der Fall. Die hatten entsprechend auch wenig Möglichkeiten, sich ihren Status zu erkämpfen, was dann erst schrittweise ab den 1960ern passierte.

Erst vor neun Jahren wurde der 2. August vom Europaparlament zum offiziellen Gedenktag für den NS-Völkermord an Sinti und Roma ernannt. Warum erst so spät?
Holzknecht: Man muss dazu sagen, dass in Österreich Roma und Sinti als Volksgruppe erst in den 1990ern offiziell anerkannt wurden. Unter den Volkskundlern waren auch viele eher konservative Vertreter und es gab eine Diskussion darüber, ob es sich wirklich um eine einheitliche Volksgruppe handelt. Deswegen und wegen der fehlenden Lobby hat es einfach lange gedauert. Wie wir wissen, gibt es auch heute noch stark verbreitet Vorurteile gegenüber Roma, nicht nur bei uns, sondern verstärkt in Osteuropa, wo traditionell mehr leben als hier.

Bettler
In Vorarlberg sorgten bettelnde Roma vor einigen Jahren für große Aufregung. Klaus Hartinger

Vor einigen Jahren sorgten aber auch hierzulande bettelnde Roma für erhebliche Aufregung bis in höchste politische Kreise, Stichwort Bettelverbot. Warum regen diese Menschen so auf?
Holzknecht: Einerseits ist es das optisch Fremde. Jeder von uns wird klassisch gekleidete Roma erkennen, wenn er sie auf der Straße sieht. Gleichzeitig hatten wir uns hier mittlerweile daran gewöhnt, dass Armut nichts ist, das man sieht. Diese Armut lässt sich zwar aus den Stadtzentren vertreiben, allerdings ist sie halt weiterhin da. Damals haben sich viele Menschen in ihrer Scheinwelt gestört gefühlt. Und die Politik folgt halt sehr gerne mal den Zurufen aus den Medien und vom „einfachen Mann auf der Straße“.

Gedenktag: „Wankostättn“ – Film und Diskussion

Das Programm erinnern:at hat heuer den Schwerpunkt Genozid an den europäischen Roma und Sinti. 2015 hat das EU-Parlament den 2. August zum Europäischen Gedenktag für den Völkermord an den Roma und Sinti erklärt. 2023 wurde dieser auch vom österreichischen Nationalrat einstimmig bestätigt und am 2. August 2023 das erste Mal offiziell bedacht.

Wankostättn
Karl Stojka erzählt im Film aus seinem Leben. sixpackfilm

Aus diesem Anlass findet am 1. August eine Veranstaltung im Metrokino in Bregenz statt. Nach einer Einführung mit regionalhistorischem Bezug durch den Historiker Severin Holzknecht, wird der Film „Wankostättn“ gezeigt. Der Dokumentarfilm basiert auf Interviews, die Karin Berger 1997 mit Karl Stojka (1931–2003) geführt hat. Als zwölfjähriges Kind wurde er 1943 mit seinen fünf Geschwistern in das KZ Au­schwitz-Birkenau deportiert. Im Gehen erzählt Stojka von seiner Kindheit auf der „Wankostättn“ in Wien, wo sich bis 1941 ein großer Lagerplatz der Roma und Sinti befand.

Im Anschluss an den 37-minütigen Film gibt es eine Podiumsdiskussion mit Johannes Spies (erinnern:at Vorarlberg), Holzknecht und Andrea Härle (ehemalige Geschäftsführerin Romano Centro). Beginn der Veranstaltung ist um 20 Uhr.