“Diagnosen werden einfach umgeschrieben”

Tausende Österreicher leiden in Folge einer Post-Covid Erkrankung unter permanenter Erschöpfung. Heilung ist nicht in Sicht. Ein Kompetenzzentrum soll helfen. Der Bund würde zahlen, das Land warte ab.
“Es fühlt sich an, als hätte ich K.o.-Tropfen bekommen. Oft kann ich nicht gerade sitzen, geschweige denn aufrecht stehen. Ich sehe mich als mild bis moderat betroffen, verbringe aber 80 Prozent meiner wachen Zeit im halbdunklen Schlafzimmer”, schildert Gabriela Harmtodt (56). Die Hohenemserin leidet seit 2008 an Multipler Sklerose. Die allumfassende Erschöpfung, mit der sie kämpft, hat jedoch nichts damit zu tun. Diese begann erst nach einer Covid-Erkrankung im Februar.
“Ohne mich wäre sie auf der Straße”
Stattdessen quält sie das Myalgische Enzephalomyelitis/Chronische Fatigue-Syndrom, kurz ME/CFS. Laut der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS (OG ME/CFS) sind bundesweit zehntausende Menschen von dem Phänomen betroffen. Oft ist es das Resultat einer Post-Covid Erkrankung. Wie Harmtodt werden sie auf der Suche nach einer Heilung von Arzt zu Arzt geschickt. Während manche dem Phänomen die Existenz absprechen, gestehen andere Mediziner ihre Überforderung ein. “Meine Neurologin hat versucht, eine Aufnahme ins Landeskrankenhaus Rankweil zu erwirken. Diese wurde mir verweigert, da man nichts für mich tun könne”, berichtet die selbständige Grafikdesignerin. Ohne Kraft zu arbeiten, bekam sie 20 Wochen lang Krankengeld von der SVS. Seit Juli lebt Harmtodt von der Pension ihres Partners. “Ohne mich wäre sie auf der Straße”, klagt ihr Lebensgefährte.
“Meine Neurologin hat versucht, eine Aufnahme ins Landeskrankenhaus Rankweil zu erwirken. Diese wurde mir verweigert, da man nichts für mich tun könne.”
Gabriela Harmtodt
Schwarz und Blau abwesend
Für Betroffene gleicht der Weg zu einer Diagnose und Behandlung einem Spießrutenlauf, der sie gesundheitlich, finanziell und seelisch in den Abgrund reißen kann. Damit aus der Krankheit kein Schicksal wird, lud die IG Safe und die Vorarlberger Selbsthilfegruppe zum runden Tisch ins Schloss Hofen nach Lochau. Die Organisatoren bemühten sich, alle relevanten Experten und Entscheidungsträger ins Gespräch zu bringen. Vor Ort und online nahmen vor allem Mediziner und Erkrankte teil. Während die Gesundheitssprecher der Grünen, Neos und SPÖ erschienen, war von den Freiheitlichen und der ÖVP niemand anwesend.

Keine psychische Krankheit
Schon zu Beginn seines Referates stellte der Psychologe Markus Gole klar, dass es sich bei ME/CFS nicht um eine psychische Krankheit handelt. Der Glaube sei unter Gutachtern verbreitet: “Diagnosen werden einfach umgeschrieben. Hier ist Wortmagie am Werk. Als würde die Krankheit verschwinden, wenn man sie nicht diagnostiziert. Die Betroffenen haben eine bessere Versorgung verdient.” Auch pflegende Angehörige leiden unter der Einstufungspraxis, betont Birgit Meinhard-Schiebel. Die Präsidentin der IG Pflege Österreich kritisiert, dass erst ab der dritten Pflegestufe Anspruch auf 24-Stunden-Betreuung und Pflegekarenz besteht.
“Hier ist Wortmagie am Werk. Als würde die Krankheit verschwinden, wenn man sie nicht diagnostiziert”
MMag. DDr. Markus Gole,
Psychologe und Philosoph

Keine Heilungsmethode bekannt
Dr. Peter Cerkl ist Primar am LKH Hohenems und leitet die Post-COVID-19-Koordinationsstelle des Landes. Während sich bei Long-COVID die Beschwerden nach drei Monaten in den meisten Fällen zurückbilden, halten sie bei Post-COVID weiter an. Die Stelle prüft, ob Patienten unter letzterem leiden und vermittelt sie weiter an Haus- oder Fachärzte: “Wir sind keine Ambulanz und können mit dem derzeitigen Wissen keine Therapie anbieten.” Da noch keine Heilmethode bekannt ist, versucht man, den Leidensdruck zu mildern. Das Krankheitsbild ist komplex und übersteigt die Kompetenz einzelner Ärzte. Daher fordert Cerkl die Schaffung von Kompetenzzentren.
Der Bund zahlt, aber das Land wartet
“Der Bund stellt Mittel bereit, um Ambulanzen einzurichten. Es gibt keine Ausreden mehr”, stellt Gesundheitsminister Johannes Rauch in einer Videobotschaft klar. Was fehlt, ist der politische Wille auf Landesebene. Die anwesenden Landespolitiker schließen sich der Forderung nach einem Kompetenzzentrum an. Gesundheitslandesrätin Martina Rüscher konnte aus Termingründen nicht an der Veranstaltung teilnehmen. Laut Johannes Gasser (Neos) warte das Land noch auf den Aktionsplan des Bundes. “Bis jetzt war keine Rede von der Einrichtung einer Ambulanz oder einer Kompetenzstelle”, kritisiert der Oppositionspolitiker. Patientenanwalt Alexander Wolf erinnert das an die Diskussion über die Einrichtung einer Schmerzambulanz, die vor zehn Jahren im Land geführt wurde: “Die Mittel sind anscheinend Vorhanden. Wenn es mit dieser Ambulanz gleich verläuft, wird es sie auch in zehn Jahren nicht geben.”
“Ich habe bis heute keinen Arzt gefunden, der mir weiterhelfen kann“
“Nach den vier Stunden war ich glücklich, dass es mögliche Lösungen gibt, auch wenn sie von der zuständigen Stelle noch nicht umgesetzt wurden”, freut sich Jutta Maier-Haas (57). Die Lauteracherin nahm online an der Veranstaltung teil und leidet seit sie im November 2020 an Corona erkrankte an ME/CFS. Durch einen Bericht in der NEUE über die an Post-Covid leidende Bettina Todorovic wurde sie auf die Selbsthilfegruppe aufmerksam. So fand sie ihren Weg zur Veranstaltung. Harmtodt hätte auch gerne teilgenommen, war aber zu erschöpft. Nach zwei Wochen sehr stabilen Wochen, hatte die Hohenemserin am Tag der Diskussion einen extremen Rückfall: “Es war zu viel.”

Ihre Arbeit bei der Pfarre musste die Lauteracherin von auf 60 Prozent reduzieren. Sie ist nicht nur geschwächt, auch ihr Geschmackssinn kam nie zurück. Jetzt koch sie riechend, so gut es geht nach Gefühl. „Ich habe gelernt damit zu leben. Es gibt gute und schlechte Tage. An den schlechten wache ich in der Nacht auf, mir ist ständig übel. Ich weiß teilweise gar nicht, wie ich mir dann helfen soll. Das kann eine Woche dauern“ berichtet die 57-Jährige. Es sei schwer, Fremden zu erklären, was sie durchmacht. Schon bei der Diagnose stoß sie auf Unverständnis: „Nach dem man in Hohenems meine Lunge untersucht hat, wurde mir mittgeteilt, ich sei gesund. Dann wurde ich wieder nach Hause geschickt. Ich habe bis heute keinen Arzt gefunden, der mir weiterhelfen kann.“ Die öffentliche Debatte über das Leiden, dass sie mit tausenden Teilt, gibt ihr Hoffnung: „Auch wenn es nur in kleinen Schritten vorangeht, werden wir gehört. Das finde ich gut.“