Strafverteidigerin Concin zum Fall “Anna”: “Politische Zurufe halte ich für gefährlich”

Die Feldkircher Rechtsanwältin Andrea Concin, Vizepräsidentin der Vereinigung Österreichischer StrafverteidigerInnen, über die aufgeheizte Debatte im „Fall Anna“, den Druck auf die Justiz und warum Recht nicht dem Volkszorn folgen darf.
Kaum ein Gerichtsverfahren hat Österreich in den vergangenen Jahren so bewegt wie der Fall „Anna“. Zehn junge Männer mit Migrationshintergrund standen kürzlich in Wien vor Gericht, weil sie 2023 ein zwölfjähriges Mädchen sexuell belästigt und in ihrer sexuellen Selbstbestimmung verletzt sowie zum Teil geschlechtlich genötigt haben sollen. Das Verfahren fand – zum Schutz der Minderjährigen – unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Das Gericht sah es nicht als erwiesen an, dass die Angeklagten gegen den Willen des Mädchens gehandelt hatten, und sprach alle frei. Aussagen und Beweise reichten demnach für eine Verurteilung nicht aus – am Ende galt der Grundsatz: im Zweifel für die Angeklagten.
Hetze und Todesdrohungen
Kurz darauf nahm eine hochemotionale Debatte ihren Lauf.
In Kommentarspalten und sozialen Netzwerken formierte sich ein digitaler Mob, der Vorsitzende des zuständigen Schöffensenats wurde mit dem Tod bedroht, die Justiz zur Zielscheibe wütender Angriffe. Boulevardmedien sprachen von einem „Skandalurteil“, auch die Politik mischte sich ein. Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) sagte, sie halte „als Mutter und als Politikerin“ die Freisprüche für falsch: Sie hoffe auf ein anderes Ergebnis in der nächsten Instanz und sprach von einem „fatalen Signal der falschen Toleranz“. Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) erklärte, das aktuelle Sexualstrafrecht entspreche „nicht mehr den Anforderungen unserer Zeit“ und forderte eine rasche Reform Justizministerin Anna Sporrer (SPÖ) kündigte an, das Zustimmungsprinzip „Nur Ja heißt Ja“ prüfen zu lassen und wies die Oberstaatsanwaltschaft an, die Freisprüche beim Obersten Gerichtshof anzufechten. Sogar Elon Musk kommentierte den Fall aus der Ferne auf X mit den Worten: „This is crazy.“ (zu dt.: Das ist verrückt)-
Fakten: Was das Strafrecht unterscheidet
Vergewaltigung (§ 201 StGB):
Liegt vor, wenn jemand mit Gewalt oder durch Drohung mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben zum Beischlaf gezwungen wird. Das Delikt setzt körperliche Gewalt oder massive Drohung voraus.
Geschlechtliche Nötigung (§ 202 StGB):
Erfasst Handlungen, bei denen mit Gewalt oder Drohung ein sexueller Akt – jedoch ohne Beischlaf – erzwungen wird, etwa durch erzwungenes Berühren oder Entblößen.
Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung (§ 205a StGB):
Dieses Delikt betrifft sexuelle Handlungen ohne ausdrückliche Zustimmung, bei denen keine Gewalt ausgeübt wird. Maßgeblich ist, ob die Handlung freiwillig erfolgte.
In der Rechtsprechung wird auch berücksichtigt, dass Betroffene in einer Schocksituation „erstarren“ können (sogenanntes Freezing) – also weder aktiv zustimmen noch sich wehren können.
„Wie im Fußball“.
So wurde aus einem Jugendstrafverfahren binnen weniger Tage eine aufgeheizte Debatte über Moral, Politik und Vertrauen in die Justiz.
Wie lässt sich in dieser Atmosphäre noch sachlich über Recht sprechen? Zu den Stimmen, die in der aufgeheizten Diskussion für Sachlichkeit werben, gehört Andrea Concin, Vizepräsidentin der Vereinigung Österreichischer StrafverteidigerInnen.
Die gebürtige Tirolerin, die in Feldkirch ihre eigene Kanzlei betreibt, sieht in der öffentlichen Erregung eine Gefahr für den Rechtsstaat. „Es ist ein bisschen wie beim Fußball. Neun Millionen Experten, die in dieser Sache mitreden und meinen, es sei skandalös, dass es Freisprüche gegeben hat“, sagt sie im Gespräch mit der NEUE.
Sie mahnt zur Besonnenheit und erinnert daran, dass Urteile in einem Rechtsstaat nicht nach Stimmungen gefällt werden, sondern nach Beweisen.
Gefahr für den Rechtsstaat
Besonders problematisch sei die politische Einmischung. „Wenn aus der Politik Zurufe kommen, wie Urteile zu fällen seien, und das ohne jegliche Aktenkenntnis und Auseinandersetzung mit Beweisen, dann ist das erschreckend. Das gefährdet den Rechtsstaat und das Vertrauen der Bevölkerung in ihn.“
Concin erinnert daran, dass das Prinzip der Gewaltentrennung keine politische Floskel sei, sondern Grundlage einer funktionierenden Demokratie.
Kritik an Urteilen sei selbstverständlich erlaubt, solange sie sachlich bleibe.
„Urteile dürfen hinterfragt werden, aber nicht auf eine Weise, bei der Richter angefeindet, Verteidiger eingeschüchtert und im Netz Hass verbreitet wird.“
Die Anwältin hat Bedenken, dass Laienrichter, die ihre Zeit als Bürgerpflicht einbringen, sich von öffentlicher Empörung einschüchtern lassen oder dass künftig jene ausgewählt werden könnten, die dem Volkszorn selbst Vorschub leisten.
Die Vizepräsidentin der StrafverteidigerInnen warnt davor, Opferschutz und Beschuldigtenrechte gegeneinander auszuspielen. „Natürlich ist der Opferschutz wichtig. Aber er wurde bereits massiv gestärkt. Concin fordert, den Begriff „mutmaßliches Opfer“ konsequent zu verwenden, solange ein Urteil nicht rechtskräftig ist. Alles andere widerspreche dem Prinzip der Unschuldsvermutung.

Verurteilungsquote
Concin verwehrt sich gegen die verbreitete Behauptung, in Sexualstrafverfahren komme es kaum zu Verurteilungen. „Wer einmal als Beschuldigter in die Mühlen gerät und es nicht schafft, im Ermittlungsverfahren eine Einstellung zu erreichen, für den ist es extrem schwer, am Ende einen Freispruch zu bekommen.“ Umso bemerkenswerter sei das Urteil im Fall Anna: „Dass zehn Menschen von einem Schöffengericht, bestehend aus zwei Berufsrichtern und zwei Laien, freigesprochen wurden, zeigt, dass da nicht so viel dran war. Aber das zu beurteilen, steht mir nicht zu.“
„Nur ja heißt Ja“.
Die Debatte um das Zustimmungsprinzip „Nur Ja heißt Ja“ , wie es etwa auch in Schweden oder Spanien gilt, verfolgt Concin mit großer Skepsis.
„Würde man das nun umkehren und verlangen, dass Beschuldigte ihre Unschuld beweisen müssen, dann wären wir im Mittelalter.“
Das sei nicht nur eine Frage des Rechts, sondern auch der Praxis, sagt sie.
„Wenn man etwa sagt, jede sexuelle Handlung müsse durch ausdrückliche Zustimmung abgesichert sein, dann hieße das im Extremfall, dass zwei Menschen in der Hitze des Gefechts quasi einen Vertrag miteinander abschließen müssten, was erlaubt ist und was nicht. Am besten schriftlich. Und wenn dann jemand etwas tun will, was nicht explizit vereinbart wurde, müsste man den Akt unterbrechen, um den Vertrag zu ergänzen.“
Concin spricht sich dagegen aus, Gesetze aus öffentlichem Druck heraus zu ändern. „Man darf das Strafrecht nicht nach Emotionen ausrichten“, sagt sie. „Wenn ein Urteil nicht gefällt, wird sofort nach einer Verschärfung gerufen – nur um den Volkszorn zu befriedigen. Das halte ich für falsch.“
Eltern in die Pflicht nehmen
Für die Strafverteidigerin hat der Fall „Anna“ vor allem eine gesellschaftliche Dimension. „Wenn junge Menschen nachts durch Parks ziehen, sich in schwierigen Gruppen bewegen, muss man sich fragen, warum sie kein Vertrauen mehr zu ihren Eltern haben, um sich anzuvertrauen, wenn etwas nicht gut läuft.“
Insgesamt müssten Eltern, Schulen und Jugendarbeiter stärker in die Pflicht genommen werden.