Opferanwalt im Fall “Anna” im Interview: Wurzeln in Vorarlberg, Erfolg auf TikTok und ein Händchen für Verfahren, die Schlagzeilen machen

Seine Mutter stammt aus Vorarlberg, er selbst lebte einige Jahre in Feldkirch: Heute tritt Sascha Flatz als Anwalt in Wien immer wieder in medienträchtigen Strafverfahren auf. Mit der NEUE spricht er über den viel diskutierten Fall „Anna“, Opferrechte und warum er Jugendlichen über TikTok erklärt, was strafbar ist.
Warum sorgt der Fall „Anna“ ihrer Meinung nach für so viel Aufsehen?
Sascha Flatz: Ich denke, das Urteil ist für viele einfach nicht nachvollziehbar gewesen. Der gesunde Menschenverstand sagt doch, dass kein zwölfjähriges Kind freiwillig mit acht Männern in einem Hotelzimmer Sex hat. Das können viele nicht verstehen – vor allem jene, die selbst Kinder haben.
So wie Verteidigungsministerin Klaudia Tanner, die – ohne jegliche Aktenkenntnis – mitgeteilt hat, dass sie die Freisprüche als Mutter und Politikerin für falsch hat. Was halten Sie von politischer Einmischung dieser Art?
Flatz: Politiker gestalten unsere Gesetze. Kritik an Urteilen muss erlaubt sein. Alles andere würde an totalitäre Systeme erinnern. In Österreich soll man die Justiz ebenso kritisieren dürfen wie die Politik.
Mehrere Medien schrieben früh von einer Gruppenvergewaltigung, obwohl dieser Vorwurf gar nicht angeklagt war. Hat das die öffentliche Diskussion verzerrt?
Flatz: Meine Mandantin hat den Ablauf so geschildert, dass nach unserer Einschätzung der Tatbestand der Vergewaltigung erfüllt gewesen wäre. Viele wissen nicht, dass dafür nicht zwingend körperliche Gewalt voraussetzt. Es genügt, wenn jemand unter Druck gesetzt wird, etwa mit den Worten: „Ich lasse dich erst gehen, wenn du mit mir Geschlechtsverkehr hast.“ So hat es meine Mandantin beschrieben.
Der Fall “ANNA”
Im sogenannten Fall „Anna“ standen zehn Jugendliche und junge Erwachsene in Wien vor Gericht. Sie sollen ein damals zwölfjähriges Mädchen in ihrer sexuellen Selbstbestimmung verletzt haben. Das Verfahren fand zum Schutz der Minderjährigen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und endete Ende September nicht rechtskräftig mit Freisprüchen.Die Staatsanwaltschaft bekämpft die Freisprüche auf Weisung des Justizministeriums beim Obersten Gerichtshof. Der Fall löste eine breite gesellschaftliche und politische Debatte über Opferschutz, Sexualstrafrecht und Justizkommunikation aus. Die Feldkircher Anwältin Andrea Concin, Vizepräsidentin der Vereinigung Österreichischer StrafverteidigerInnen, warnte im NEUE-Interview vor politischen Zurufen. Sie sieht darin eine Gefahr für den Rechtsstaat.
Kritiker werfen Ihnen vor, zur emotionalen Aufladung des Falles beigetragen zu haben.
Flatz: Der Fall war schon in den Medien, bevor ich ihn übernommen habe. Trotzdem war es mir wichtig, selbst an die Öffentlichkeit zu gehen, weil immer wieder falsche Dinge berichtet wurden. Eine Spendenaktion hat zusätzlich Aufmerksamkeit gebracht. Sie sollte der Familie helfen, eine neue Wohnung zu finden, nachdem das Kind einem der mutmaßlichen Täter wieder begegnet war und daraufhin zusammengebrochen ist. Ich wollte vor allem falsche Gerüchte richtigstellen. Noch heute wird bestritten, was passiert ist. Das lasse ich nicht auf meiner Mandantin sitzen, sie hat das sicher nicht erfunden. Mir war außerdem wichtig, über diese Delikte aufzuklären. Ich sehe dieses Muster als Rechtsanwalt seit Jahren. Es ist immer dasselbe: Junge, beschäftigungslose Jugendliche sitzen in Parks, warten auf Mädchen, oft schüchtern oder beeinträchtigt, geben sich als Freunde aus, und irgendwann kippt die Situation. Ich finde es wichtig, Eltern und Jugendliche zu sensibilisieren: Solche Handlungen passieren immer wieder und sind strafbar. Kinder müssen wissen, dass sie die Polizei rufen dürfen, wenn sie bedroht oder eingesperrt werden. Viele trauen sich das gar nicht.
Wie entgegnen Sie dem Vorwurf, Sie hätten den Fall genutzt, um Ihre Bekanntheit zu steigern?
Flatz: Glücklicherweise kann ich beweisen, dass das nicht stimmt. Ich habe auf meinen Kanälen in den sozialen Medien rund 150.000 Follower und immer wieder aufsehenerregende Fälle, die in den Medien berichtet werden. Ich war also schon vorher bekannt. Für mich war dieser Fall, den ich pro bono übernommen habe, in erster Linie sehr viel Arbeit, die ich aber gerne gemacht habe, weil ich dem Mädchen helfen wollte

Wo ziehen Sie persönlich die Grenze zwischen legitimer anwaltlicher Vertretung und öffentlicher Skandalisierung?
Flatz: Die Grenze ziehe ich dort, wo Kritik unsachlich oder persönlich wird. Dass der Name des Richters öffentlich genannt wurde, finde ich nicht in Ordnung. Ich habe in meinen sozialen Medien alle Bilder entfernt, auf denen der Richter zu erkennen war. Drohungen gegen das Gericht oder Richter verurteile ich ausdrücklich. Sie lenken die Diskussion in die falsche Richtung. Statt Hass zu schüren, sollte man fragen, was man aus der Situation lernen kann.
Was zum Beispiel?
Flatz: Es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum ein Opfer in solchen Fällen kein Berufungsrecht hat oder keine Nichtigkeitsbeschwerde einbringen kann. Das bleibt allein der Staatsanwaltschaft vorbehalten. Ebenso unverständlich ist, dass ein Opfer gegen eine Anklageschrift keinen Einspruch erheben darf, während Angeklagte dieses Recht sehr wohl haben. Ein weiteres Problem ist der Umgang mit Privatgutachten. In der Praxis werden sie meist abgelehnt. In unserem Fall wurde etwa behauptet, das Mädchen habe keine posttraumatische Belastungsstörung. Ein privates Gutachten kam zu einem gegenteiligen Ergebnis, es wurde in einem vorigen Prozess gar nicht verlesen. Solche Gutachten sollten verpflichtend berücksichtigt werden. Auch Glaubwürdigkeitsgutachten sollte es geben, in Deutschland gehören sie zum Standard. Darüber hinaus wäre es sinnvoll, über ein fixes Schutzalter nachzudenken, ähnlich wie in den USA, wo sexuelle Handlungen unter einem bestimmten Alter grundsätzlich verboten sind.

Die Justiz kommt erst am Schluss ins Spiel. Wo waren die Eltern des Mädchens? Warum hat sie sich nicht an sie gewandt?
Flatz: Ja, das hat sie nicht. Ich sehe hier aber auch Versäumnisse der Behörden. Etwa, dass die Schule die Fehlzeiten des Kindes nicht an die Eltern gemeldet hat. Die Mutter ist mit dem Mädchen auch zu einer Ärztin gegangen. Wir Erwachsenen dürfen nicht vergessen, wie Kinder sind. Sie tun Dinge, die man oft nicht versteht. Im Nachhinein hat man sie gefragt, warum sie immer wieder hingegangen ist. Sie sagte, sie habe Angst gehabt, dass die anderen ihre Videos herumzeigen. Diese Aufnahmen wurden später gelöscht, vermutlich, weil man gewusst hat, dass da etwas im Busch ist. Sie erzählte auch, dass die Burschen wussten, wo sie wohnt, und sie Angst hatte, dass sie ihr etwas antun könnten. In der Gruppe kursierten Videos, auf denen Gewalt zu sehen war. Schlägereien, sogar Waffen. Wenn ein Kind so etwas sieht, kann das enorme Angst auslösen.
Insofern sollten auch Jugendarbeit, Schulen und Integrationsarbeit stärker gefordert sein, nicht?
Flatz: Natürlich braucht es mehr Prävention. Kinder und Jugendliche müssen Werte vermittelt bekomme. In diesem Fall stammten die Beschuldigten aus anderen Kulturkreisen, in denen oft ein anderes Frauenbild vorherrscht. In den ausgewerteten Chats wurde das Mädchen als Objekt dargestellt, die Sprache war zutiefst abwertend. Man sollte sich auch fragen, warum 14-Jährige am Mittag in Parks herumsitzen. Die Polizei müsste hier stärker Präsenz zeigen, auch Sozialarbeit wäre vonnöten. Vor allem Jugendliche aus Ländern mit falschen Rollenbildern müssen lernen, dass Frauen hier gleichberechtigt sind, dass ein Nein ein Nein ist und dass Übergriffe strafbar sind. Ich weiß aus meiner Arbeit mit jungen Straftätern: Stärke wird oft bewundert, Schwäche verachtet. Wer aber versteht, dass solches Verhalten Konsequenzen hat und man dafür ins Gefängnis kommen kann, hört damit auf.
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Sie haben die Beweiswürdigung des Schöffengerichts kritisiert. Was genau sind ihre Argumente?
Flatz: Das Verfahren fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, deshalb kann ich nicht ins Detail gehen. Im Grunde genommen hieß es, ihre Aussagen seien widersprüchlich. Das stimmt aber nicht, denn sie waren nur unvollständig. Denn in der ersten polizeilichen Einvernahme fehlten viele Details, etwa zum Vorfall im Hotelzimmer. Wir haben dann entschieden, dass sie nicht ein zweites Mal vor der Polizei aussagt, sondern direkt vor Gericht. Zudem gab es Chats, in denen sich die Beschuldigten über ihr Verhalten gegenüber Mädchen austauschten, und ein Zeuge bestätigte, ein belastendes Video gesehen zu haben, das aber später gelöscht wurde. Nach meiner Überzeugung hätten die Beweise und Aussagen für einen Schuldspruch gereicht. Das Gericht sah das anders. Das muss man akzeptieren, aber nachvollziehbar ist es für mich nicht.
Vielleicht noch kurz zu Ihrer Person. Sie sind Deutscher, haben aber auch Wurzeln in Vorarlberg.
Flatz: Ja, meine Mutter war Vorarlbergerin, und ich habe einige Jahre in Feldkirch gelebt. Zuerst habe ich dort eine Ausbildung zum Koch und Kellner gemacht. Danach habe ich an der Abendschule die Matura nachgeholt und zusätzlich eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann absolviert. In diesem Beruf hatte ich viel mit rechtlichen Fragen zu tun und habe festgestellt, wie spannend und hilfreich es ist, die Gesetze zu kennen – und dass man sich im Leben nicht alles gefallen lassen muss.

Und nach dem Studium war dann gleich klar, dass Sie in die Anwaltei wollen?
Flatz: Ich war kurz in der Rechtsabteilung einer Bank. Alle komplizierteren Fälle wurden sofort an Kanzleien abgegeben. Da dachte ich mir: Dafür habe ich nicht studiert. Ich habe dann zwei Jahre bei einem Vorarlberger Anwalt in Wien gearbeitet, der viel Anlegerschutz gemacht hat. Das Rechtsgebiet hat mir dann aber nicht so gefallen. Das Strafrecht ist wesentlich spannender. Wenn man selbst aus einfachen Verhältnissen kommt, versteht man die Menschen besser und kann auf Augenhöhe mit ihnen sprechen.
Was meinen Sie mit einfachen Verhältnissen?
Flatz: Ich bin der Erste in meiner Familie, der eine Universität von innen gesehen hat. Das ist in meinem Beruf ein Vorteil: Man kennt die andere Seite des Lebens. Diese Erfahrung hilft mir, Mandantinnen und Mandanten realistisch zu beraten, gerade im Strafrecht. Sie müssen erkennen können, was sie ihren Mandanten vor Gericht zumuten können und was nicht und danach muss man die Verteidigungsstrategie wählen.
Sie sind in sozialen Medien wie TikTok sehr aktiv. Warum?
Flatz: Ich habe oft erlebt, dass Jugendliche Straftaten begehen, ohne zu wissen, dass sie strafbar handeln. Wenn sie jemandem das Handy mit Gewalt wegnehmen, begehen sie einen Raub. Ich habe mir gedacht: Mensch, das muss denen doch mal jemand sagen. Viele verstehen erst, wie ernst es ist, wenn sie vor Gericht stehen. Wer einmal vorbestraft ist, bekommt oft keinen Ausbildungsplatz mehr – und das wegen einer Dummheit. Ich erkläre auch, wie man sich bei der Polizei richtig verhält. Viele sagen dort Dinge, die ihnen gar nicht nachgewiesen werden können und belasten sich dadurch selbst.
Sie haben offenbar ein Händchen für aufsehenerregende und prominente Fälle. Sie haben unter anderem den ehemaligen Vösendorfer Bürgermeister vertreten, der einen Angriff auf sich selbst erfunden hat. Was beschäftigt Sie derzeit?
Ich habe immer wieder mit sehr schweren Fällen zu tun. Derzeit betreue ich einen Fall, bei dem jemand mit einer Flasche erschlagen wurde. Es gibt zwei Personen, die die Tat gestanden haben. Beide sind inzwischen aus der Untersuchungshaft entlassen, weil unklar ist, wer tatsächlich verantwortlich war. Ich vertrete einen der Beschuldigten.