„Die Diagnose nimmt Schuld und Scham weg“

22.06.2024 • 06:00 Uhr
„Die Diagnose nimmt Schuld und Scham weg“
Die AD(H)S-Diagnose war für sie eine Befreiung. Hartinger

Wer an ADHS denkt, hat oft hyperaktive Kinder vor Augen. Doch es betrifft auch Erwachsene. Carola Siegel bekam ihre Diagnose erst mit 49.

Als die NEUE ein Treffen mit Carola Siegel ausmacht, bittet die 67-Jährige um eine Vorlaufzeit, um erst Ordnung in ihre Wohnung zu bringen. Denn „ADHS-ler“ räumen nicht gerne auf, erklärt sie. Sie machen nur das mit Begeisterung, was ihnen Spaß bereitet, da ihnen sonst nach getaner Arbeit das Gefühl der Belohnung fehlt. Denn der Neurotransmitter Dopamin ist bei Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Mangelware. Es ist wissenschaftlich belegt, dass der ADHS eine neurobiologische Stoffwechsel- und Funktionsstörung im Hirn zugrunde liegt. Deadlines würden jedoch helfen.

Stricken als Beschäftigung

Als die NEUE ihr dann einen Tag später in ihrem Wohnzimmer gegenübersitzt, lässt sich erahnen, wie die Fußacherin gerne ihren Tag verbringt. Große Plas­tikboxen voller bunter Wolle und Stapel von Mützen geben Hinweise darauf. Stricken ist für sie „Beschäftigungstherapie“. Dabei kann sie besser Vorträgen zuhören, erklärt sie. Hingegen wenn Siegel großes Interesse für etwas hat, dann vergisst sie alles um sich herum. Dann kann sie stundenlang auf einer Live-Cam Vulkanausbrüche verfolgen. Das nennt sich Hyperfokus. „Dann sitze ich 16 Stunden am Computer, wenn mich ein Thema voll interessiert, und vergesse zu essen und zu trinken und zu schlafen.“ Auch sonst hat die Fußacherin gerne etwas in den Händen. Während Carola Siegel mit der NEUE spricht, hält sie eine Zigarette in der linken Hand, doch diese brennt nicht. Es dient lediglich zur Selbstberuhigung. Siegel zündet die Kippe erst gegen Ende des Gesprächs an.

AD(H)S

Definition
AD(H)S ist laut Astrid Neuy-Lobkowicz in ihrem Buch „Habe ich AD(H)S und wenn ja, was mache ich Gutes daraus?“ eine Verhaltensstörung. Kennzeichen sind: Auffälligkeiten bei der Aufmerksamkeit, Konzentration, Impulsivität und körperliche Unruhe. Das „H“ steht in Klammer, da die Abkürzung „ADHS“ für Aufmerksamkeitsdefizit/-Hyperaktivitätsstörung steht, jedoch nicht immer Hyperaktivität eine Rolle spielt.

Drei Typen
Bei Erwachsenen gibt es drei Typen: Neuy-Lobkowicz teilt es in den hyperaktiven Typ, den unaufmerksamen Typ und den kombinierten Typ ein. Als Kind ist ersterer Typ als klassischer Zappelphilipp bekannt. Erwachsene behalten ihre Unruhe jedoch meist für sich, da sie gelernt haben, damit umzugehen. Trotzdem haben sie immer noch eine innere Unruhe in sich. Der unaufmerksame Typ wirkt oft verträumt, uninteressiert und erschöpft. Sie verlieren sich gerne in Tagträumen. Bis sie eine Situation erfasst haben, ist sie oft schon vorbei. Dieser Typ ist unbekannt und wird bei Frauen oft nicht diagnostiziert. Bei Erwachsenen kommt meist ein Mischtyp vor. Dabei ist zu beachten: Jeder Mensch hat sein eigenes AD(H)S.

Tabuthema aus Angst

Bevor sie die Zigarette schließlich anzündet, erzählt die 67-Jährige jedoch ausgiebig von ihrer Diagnose und ihrem Alltag mit ADHS. Denn die Verhaltensstörung betrifft keinesfalls nur Kinder, die nicht still sitzen können. Auch Erwachsene sind betroffen, meist nicht mehr derart offensichtlich, da sie gelernt haben, mit ADHS umzugehen und es zu kaschieren. Das Hyperaktive verlagert sich teilweise zu einer inneren Unruhe. Siegel malt das Bild von sieben Fernsehern, die gleichzeitig im Kopf laufen.

„Die Diagnose nimmt Schuld und Scham weg“
Gerne folgt sie am Computer gespannt Vulkanausbrüchen. Dann hat sie nur noch Aufmerksamkeit dafür und vergisst alles andere.Hartinger

Dass die Offenheit von Siegel keinesfalls selbstverständlich ist, wird bei der Recherche schnell deutlich. Viele Berufstätige wollen sich nicht offen ­outen – aus Angst vor den Folgen am Arbeitsplatz. Für Siegel ist diese Furcht nicht mehr präsent – schließlich ist sie Pensionistin. Zuletzt war sie als Haushaltshilfe, davor 14 Jahre als Taxifahrerin – daran mochte sie die nicht üblichen Arbeitszeiten. Die Diagnose bekam sie erst mit 49 Jahren. Oft wird ADHS nicht oder fälschlich diagnostiziert. Eigentlich gab es bei ihr schon früh Anzeichen. „Es hat in der Schule schon angefangen, dass ich voll motiviert nach Hause gegangen bin und mich für die Hausübung hingehockt habe. Plötzlich war es dann dunkel und ich wusste nicht, wo der Tag hin war“, erzählt sie von ihrer Schulzeit. Trotzdem war dann die Hausübung nicht fertig. Ihre Mutter musste sie beaufsichtigen, damit sie diese erledigte. Während des Unterrichts kritzelte sie alle Unterlagen voll – der Selbstberuhigung wegen.

adhs kappen
Siegel strickt Mützen für die Omas gegen Rechts.

Später galt sie als depressiv und war dem Alkohol zugeneigt, bis die ADHS-Diagnose sie erlös­te. Das gab ihr endlich Gewissheit, und sie hörte mit dem Alkoholkonsum auf. Schließlich wusste sie dann, dass sie weder faul ist oder einen schlechten Charakter hat. „Ich habe fast 50 Jahre neu bewerten müssen. Manche meiner Misserfolge zählen inzwischen nicht mehr als solche“, erzählt sie vom Wendepunkt. „Dann hast du eine Erklärung dafür und das nimmt dir viel Schuld und Scham weg.“

Kaschieren mit Folgen

Gerade Frauen versuchen oft, die ADHS zu verstecken. „Du lernst schon als Mädchen, dass es nicht anerkannt ist, wenn du nicht ordentlich funktionierst. Also lernst du, die Probleme zu verstecken und dadurch bekommst du sie in den Griff. Aber eigentlich versteckst du sie nur.“ Das kann dann Energie kosten – vor allem, wenn man für den Job am Wochenende etwas nachholen muss, damit es nicht auffliegt. Dann gibt es aber auch noch ein Chaos in der Wohnung zu beseitigen. „Dann gehen die Frauen nicht mit Freundinnen am Wochenende fort, weil sie die Bude aufräumen müssen, weil das unter der Woche nicht gegangen ist.“ Dabei gäbe es nämlich ein Problem: „Die Leute glauben, du hast als Frau ein Gen für Ordnung“. Dies kann dann in einem Burnout enden.

„Die Diagnose nimmt Schuld und Scham weg“
Stricken hilft Carola Siegel sich auf etwas zu konzentrieren.Hartinger

Wer von der eigenen Diagnose weiß, hat die Möglichkeit, sich Tricks für bestimmte Situationen anzueignen. Diese werden auch in der Vorarlberger Selbsthilfegruppe besprochen, welche Siegel leitet. Sie hat diese unter anderem 2009 ins Leben gerufen. Anfangs gab es noch keinen großen Andrang, inzwischen kommen teilweise bis zu 20 Personen. Sie beobachtet seit etwa zwei Jahren einen erhöhten Andrang. Siegel führt dies auf das Outing von Promis zurück, oder auch die Instagrampräsenz zu ADHS wie „kirmesimkopf“.

Anonym: „Bin mir sicher, dass es meiner Arbeit hilft“

Auf der Suche nach Inter­viewpartnern wird schnell deutlich: ADHS ist ein Tabu. Etwa eine Mittzwanzigerin möchte zwar ihre Erfahrungen teilen, aber anonym bleiben. Denn sie hat Angst vor Stigmatisierung. Etwa möchte sie verhindern, dass man ihr weniger zutraut. Sie befürchtet, dass man ihr dann womöglich aufgrund von Vorurteilen leichtere Aufgaben zuteilt. Sie hat das Gefühl, dass viele Leute nicht wissen, was ADHS wirklich ist und möchte nicht aufgrund von Vorurteilen mit den Stichworten „dumm“, „untreu“ oder „nicht nachdenkend“ oder „laut“ in Verbindung gebracht werden.

Bei der Oberländerin gab es schon mit sieben Jahren eine Vermutung. Ihre Mama hatte jedoch Angst vor dem Medikament Ritalin, weshalb die Diagnose beim Psychiater erst mit 21 folgte. ADHS machte sich etwa bei ihren Schulleistung bemerkbar. Frontalunterricht zeigte keinen Erfolg. Obwohl sie fast zur Sonderschule gegangen wäre, maturierte sie später und schloss ein Bachelorstudium ab.

Toast in Dusche

Es gibt Strategien, etwa mit Desinteresse umzugehen. In ihrem heutigen Job teilt sie in so einem Fall ihrem Umfeld eine selbstgesetzte Deadline mit, um sich selbst Druck zu machen. Außerdem führt sie viele Listen für die Organisation.

Sie ist gleichzeitig überzeugt, dass ADHS Vorteile mit sich bringt: „Ich bin mir sicher, dass es meiner Arbeit hilft.“ Etwa fördere es die Kreativität und das Hirn laufe in Stresssituationen auf Hochdruck. Auch kann sie sich bei Interesse lange auf etwas fokussieren. Oft suche man sich auch Gleichgesinnte. So erzählt sie etwa von ihrem Partner, der teilweise den Toast in der Dusche stehen lässt, während er eine super Seminararbeit verfasst.

David
David Pitrof spricht offen über ADS. Paterno

Wenn die Konzentration Ping Pong hüpft

David Pitrof ging bei der Bewerbung für seinen Job als Druckvorstufentechniker offen mit seiner ADS-Diagnose um und nahm dies nicht als Nachteil war. ADS ist eine Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität. „Ich habe immer schon gewusst, dass mit mir etwas nicht stimmt“, sagt der 26-Jährige. Etwa merkte er, dass Dinge, die für andere normal sind, für ihn eine Herausforderung darstellen. Außerdem sind Termine, Planung und ein langer Fokus auf etwas Hürden für ihn. Oft hat er 1000 Gedanken im Kopf. Gleichzeitig kann er sich auf das, das ihn interessiert, stundenlang fokussieren. Der Grafiker ist überzeugt: Durch ADS hat er eine andere Perspektive auf das Leben – was in einem Kreativberuf von Vorteil ist.