“Der Moment, in dem Georg Geschichte war”

Transfrau Georgine Kellermann spricht über ihren mutigen Schritt des Coming-outs, Zuspruch, Hass und ihre Lesung zu ihrem Buch „Der lange Weg zu mir selbst“ in Bregenz.
Wer sind Sie?
Georgine Kellermann: Ich bin ich. Seit etwas mehr als einem Jahr pensioniert und habe mein Leben lang als Journalistin gearbeitet, vor allem beim Westdeutschen Rundfunk (WDR) in Köln. Auf diese Weise konnte ich viele interessante, tolle, manchmal auch nervige Menschen treffen.
Sie waren als Auslandskorrespondentin in vielen Ländern der Welt unterwegs. Gibt es Ereignisse, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Kellermann: Jeder weiß noch, was er am 11. September 2001 gemacht hat, als die Nachrichten über die Flugzeuge kamen, die in die Türme flogen. Ich bin direkt in Richtung New York gestartet und habe mit Kollegen 14 Tage lang über die Ereignisse berichtet. Diese Bilder werde ich nie vergessen. Damals durfte in Lower Manhattan kein Auto fahren und New York war so still wie nie zuvor oder danach. Überall hingen Plakatwände, auf denen Menschen Fotos ihrer vermissten Angehörigen anpinnten – so viel Verzweiflung, so viel Ratlosigkeit, aber auch so viel Solidarität.

Vor fünf Jahren gab es eine einschneidende Veränderung in Ihrem Leben, als Sie der Welt gesagt haben, wer Sie wirklich sind.
Kellermann: Ich führte lange Zeit ein Zweidrittel-Eindrittel-Leben: Im Job war ich Georg, zu Hause, im Urlaub und privat war ich Georgine. Öffentlich habe ich das nie gemacht, weil ich Sorge hatte, dass man mir meine journalistische Kompetenz absprechen würde. Ich dachte, dass man sich über mich lustig machen oder meine Berichte nicht mehr ernst nehmen könnte. Mein Plan war es, bis zur Pensionierung zu warten. Doch dann, durch einen Zufall auf dem Weg in den Urlaub, traf ich eine Kollegin. Zum ersten Mal habe ich mich nicht versteckt, sondern bin zu ihr gegangen und habe sie begrüßt. Sie fragte: „Herr Kellermann, sind Sie verkleidet?“ und ich antwortete: „Nein, ich bin eine Frau.“ Ihre Reaktion war so warmherzig und begeistert, dass ich gemerkt habe, wie falsch ich mit meiner Angst lag.
Hat Sie dieser Zufall bestärkt, zu sagen: „Jetzt kann ich raus“?
Kellermann: Ja, absolut. Nachdem ich sie getroffen hatte, war diese innere Barriere weg, die mich daran gehindert hatte, zu mir selbst zu stehen. Auf dem Weg nach San Francisco habe ich im Zug zum Frankfurter Flughafen eine Facebook-Seite für Georgine Kellermann erstellt und diese eine Stunde später veröffentlicht. Damit war es in der Welt und das war der Moment, in dem Georg Geschichte war – und zwar radikal. Der arme Kerl (lacht).
Wieviel leichter fühlen Sie sich seitdem?
Kellermann: Euphorisch. Befreit. Ich fliege immer noch. Ich habe das mal mit einer kleinen Schildkröte verglichen, die im Ei steckt und es mit ihrem Schnabel schafft, ihre Schale zu sprengen. Plötzlich sieht sie das Meer, schwimmt in ihr Element, und so fühle ich mich bis heute.

Auf Ihren Social-Media-Kanälen ist diese Lebensfreude spürbar. Ist das Ihre neue Freiheit, sich nicht verstecken zu müssen?
Kellermann: Ja, darauf baut vieles auf, insbesondere mein Selbstbewusstsein. Inzwischen empfinde ich mich als jemanden, die anderen Mut macht. Viele Menschen schreiben mir, dass ich sie darin bestärke, so zu sein, wie sie sind.
Wie erleben Sie Vorarlberg?
Kellermann: Ich fühle mich hier wahnsinnig wertgeschätzt, besonders von Menschen wie Stefan Becker, der das Diversity-Management bei der Stadt Bregenz leitet. Er und viele andere haben mich hier so nett aufgenommen. Das ist eine wirklich tolle Erfahrung.
Vorarlberg ist eine eher ländliche Region. Wie wichtig ist es, hier über Diversität und Akzeptanz zu sprechen?
Kellermann: Es ist sehr wichtig. In ländlichen Regionen, wie auch in den östlichen Bundesländern in Deutschland, gibt es immer noch viel Ablehnung. Ich war zum Beispiel bei CSD-Demonstrationen in Städten wie Pirna oder Görlitz. Dort gibt es nicht nur rhetorische, sondern auch körperliche Gewalt gegen queere Menschen. Es ist wichtig, vor Ort zu sein und zu zeigen: „Wir wollen einfach nur wir selbst sein.“
Wie kann man Familien unterstützen, die eine Transperson in ihrer Mitte haben?
Kellermann: Es gibt viele Organisationen, die Familien helfen können. Wichtig ist, dass Eltern und Familien verstehen, dass es in erster Linie darum geht, dass ihr Kind glücklich ist. Egal, ob es ein Sohn oder eine Tochter ist, es bleibt das eigene Kind. Auch in Vorarlberg gibt es viele Anlaufstellen, die queeren Menschen Unterstützung bieten.
Wie stehen Sie zum Thema gendergerechte Sprache?
Kellermann: Ich versuche immer, gendergerecht zu sprechen, weil ich inzwischen gelernt habe und überzeugt bin, dass eine gendergerechte Sprache eine inklusive Sprache ist. Es geht darum, dass sich alle angesprochen fühlen. Das kostet uns nichts und ich denke, es ist ein wichtiger Schritt, um eine offene und inklusive Gesellschaft zu fördern. Es gelingt mir selbst auch nicht immer, aber das Wichtigste ist, dass wir uns bemühen.

Welche Rolle spielen soziale Medien in Ihrem Leben?
Kellermann: Social Media hat mir sehr geholfen, vor allem nach meinem Coming-out. Ohne die sozialen Netzwerke hätte ich nicht die Unterstützung und Sichtbarkeit erfahren, die ich heute habe. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die mir Mut gemacht haben und denen ich Mut machen konnte. Ich habe tatsächlich einen Candystorm, also das Gegenteil eines Shitstorms erfahren. Allerdings gibt es auch negative Seiten – Hasskommentare und Anfeindungen gehören leider dazu. Aber ich habe gelernt, damit umzugehen.
In Ihrem Buch „Der lange Weg zu mir selbst“ beschreiben Sie Ihre persönliche Reise. Was möchten Sie den Menschen, die zu Ihren Lesungen kommen, mit auf den Weg geben?
Kellermann: In meinem Buch geht es darum, sich selbst zu akzeptieren und zu dem zu stehen, was man ist – egal, wie schwierig der Weg ist. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte und seine eigenen Herausforderungen. Mein Buch soll eine Ermutigung sein, sich nicht zu verstecken, sondern sich zu zeigen, so wie man ist. Es gibt keine allgemeingültige Antwort darauf, ob es richtig ist, seine Identität öffentlich zu leben – das hängt von vielen Faktoren ab. Aber ich hoffe, dass mein Buch anderen hilft, ihre eigene Antwort darauf zu finden.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Kellermann: Mein größter Wunsch ist, dass Interviews wie dieses irgendwann nicht mehr nötig sind. Ich würde mir wünschen, dass die Sichtbarkeit von Transmenschen so normal wird, dass wir darüber nicht mehr sprechen müssen. Bis dahin werde ich weiterhin dafür kämpfen, dass unsere Gesellschaft offener und toleranter wird.
Zur Person
Georgine Kellermann (67) ist eine deutsche Journalistin und Trans-Aktivistin. Nach Jahrzehnten im WDR, darunter als Auslandskorrespondentin, machte sie 2019 ihr Coming-out als Transfrau. In ihrem Buch „Der lange Weg zu mir selbst“ erzählt sie von ihrem Lebensweg. Heute, ab 19 Uhr, liest sie daraus im Vorarlberger Landestheater in Bregenz. Der Eintritt ist frei. Anmeldung unter stefan.becker@bregenz.at.