Zwischen Krimis und der Realität

Gerichtsmedizinerin Prof. Dr. Kathrin Yen aus Bregenz, Pionierin der Gewaltambulanzen, spricht über die wahre Arbeit hinter den Kulissen und die Bedeutung der Forensik für Gewaltopfer.
Was hat Sie motiviert, Gerichtsmedizinerin zu werden und welche Rolle spielte die Landesbibliothek in Bregenz dabei?
Kathrin Yen: Die Landesbibliothek war der ausschlaggebende Grund, warum ich diesen Weg eingeschlagen habe. Mein Vater hat damals die Landesbibliothek aufgebaut und wir waren oft dort. Eines Tages entdeckte ich eine Fachzeitschrift – das Archiv für Kriminologie. Diese unscheinbare, graue Zeitschrift war frei zugänglich und hat mich sofort fasziniert. Ich war gleichzeitig erschrocken, aber auch begeistert von dem, was ich dort las. Besonders hilfreich war, dass die Inhalte auf Deutsch geschrieben waren. Das machte es mir als Jugendliche leichter, die komplexen Themen zu verstehen. Ab diesem Moment habe ich jede neue Ausgabe dieser Fachzeitschrift verschlungen. Auch während meines Medizinstudiums habe ich jede Gelegenheit genutzt, gerichtsmedizinische Vorlesungen zu besuchen und Praktika zu absolvieren. Nach meiner Zeit in den Krankenhäusern in Feldkirch und Hohenems musste ich mich entscheiden, ob ich in die klinische Richtung oder in die Gerichtsmedizin gehen wollte. Ein glücklicher Zufall half mir bei der Entscheidung: Mein damaliger Chefarzt vermittelte mir ein Praktikum in der Gerichtsmedizin in Bern, was meinen Weg in diese Richtung besiegelt hat.

In der Öffentlichkeit wird die Gerichtsmedizin oft mit Krimiserien wie CSI verbunden. Wie realistisch sind diese Darstellungen im Vergleich zur echten Arbeit?
Yen: Es gibt natürlich Serien, die realistische Elemente enthalten, und solche, die stark übertreiben. Was auf jeden Fall stimmt, ist, dass die Gerichtsmedizin sehr vielfältig ist. Wir arbeiten tatsächlich häufig vor Ort an Tatorten, untersuchen Leichen und sichern Spuren. Aber was in den Serien oft untergeht, ist, dass wir hauptsächlich mit lebenden Gewaltopfern arbeiten. Der Fokus auf Tote in den Medien verstärkt das Klischee, dass wir nur mit Leichen zu tun haben. Tatsächlich handelt es sich bei den meisten Fällen um Gewalttaten, die überlebt wurden – glücklicherweise.
Sie haben Pionierarbeit geleistet, indem Sie die erste Gewaltambulanz in Österreich mitgegründet haben. Was passiert in einer solchen Gewaltambulanz?
Yen: Eine Gewaltambulanz ist eine Einrichtung, die es Opfern ermöglicht, ihre Verletzungen dokumentieren und Beweise sichern zu lassen, ohne sofort eine Anzeige erstatten zu müssen. In Heidelberg haben wir beispielsweise rund um die Uhr geöffnet, um Menschen nach Übergriffen zu untersuchen – egal ob es sich um körperliche oder sexuelle Gewalt handelt, um Kindesmisshandlung, häusliche Gewalt oder Messerstechereien. Die Gewaltambulanz dokumentiert systematisch alle Verletzungen und sichert Spuren, die später für ein Strafverfahren entscheidend sein können.
Was besonders wichtig ist: Diese Untersuchungen sind verfahrensunabhängig. Das bedeutet, dass die Opfer nicht sofort zur Polizei gehen müssen, sondern die Beweise zunächst sichern lassen und sich später überlegen können, ob sie eine Anzeige erstatten wollen. Leider gibt es in Österreich bislang keine ausreichende Finanzierung für solche Untersuchungen, wie es in Deutschland der Fall ist.
Wie läuft eine typische Untersuchung in der Gewaltambulanz ab?
Yen: Der Ablauf variiert je nach Fall, aber grundsätzlich wird der Körper der betroffenen Person von Kopf bis Fuß untersucht. Dabei achten wir auf Verletzungen wie Hämatome oder Spuren, die auf einen sexuellen Übergriff hinweisen könnten. Alles wird dokumentiert und forensisch gesichert. Dadurch schaffen wir Klarheit darüber, was passiert ist, was sowohl für die betroffenen Personen als auch für mögliche Strafverfahren von großer Bedeutung ist. Wichtig ist, dass wir neutral an die Fälle herangehen – manchmal bestätigen sich Vorwürfe nicht, aber die Gewissheit ist für alle Beteiligten wichtig.

Ein weiterer Schwerpunkt Ihrer aktuellen Arbeit ist der Einsatz von Telemedizin. Wie funktioniert das im Zusammenhang mit Gewaltambulanzen?
Yen: Wir haben ein telemedizinisches System entwickelt, das es uns ermöglicht, Verdachtsfälle von Kindesmisshandlung oder sexuellem Missbrauch auch in abgelegenen Gebieten zu untersuchen. In Ravensburg, zum Beispiel, können Kinderärzte uns Forensiker über eine Datenbrille live zuschalten, und wir können die Untersuchung in Echtzeit mitverfolgen und anleiten. Dadurch bringen wir das rechtsmedizinische Fachwissen dorthin, wo es gebraucht wird, auch wenn vor Ort kein Gerichtsmediziner vorhanden ist. Die Ärzte vor Ort untersuchen die Patienten, und wir begleiten die Untersuchung aus der Ferne. So können wir sicherstellen, dass auch in Regionen ohne Gerichtsmediziner eine fachgerechte Untersuchung durchgeführt wird. Allerdings muss klar sein: Es geht nicht darum, dass Patienten von zu Hause aus über Zoom untersucht werden. Die telemedizinischen Untersuchungen finden immer in Kliniken oder anderen Einrichtungen statt, um sicherzustellen, dass alle forensischen Standards eingehalten werden.
„In der Gerichtsmedizin geht es nicht nur um Leichen, sondern auch darum, Gewaltopfer vor weiterer Gewalt zu schützen.“
Prof. Dr. Kathrin Yen, Gerichtsmedizinerin
Sie sind der Ansicht, in Österreich ist die Versorgung mit Gerichtsmedizinern und Gewaltambulanzen durchaus noch ausbaufähig. Wie sehen Sie die Situation in Vorarlberg?
Yen: In Vorarlberg gibt es definitiv auch noch Verbesserungsmöglichkeiten. Es ist zwar gut, dass in den Kliniken Sensibilisierungsmaßnahmen stattfinden und Personal geschult wird, aber für die forensische Beweissicherung reicht das nicht aus. Um forensisch und rechtsmedizinisch korrekte Diagnosen zu stellen, braucht es speziell ausgebildete Gerichtsmediziner. Ein paar Schulungen reichen nicht, um die komplexen Anforderungen zu erfüllen. Das Fach erfordert eine jahrelange Ausbildung und ohne diese kann die Qualität der Untersuchungen kaum gewährleistet werden.
Wie sieht es mit dem Nachwuchs in der Gerichtsmedizin aus?
Yen: Im Moment haben wir keine Nachwuchsprobleme, was vermutlich auch an der Popularität von Krimiserien liegt, die das Interesse an der Gerichtsmedizin wecken. Österreich ist historisch gesehen die Wiege der Gerichtsmedizin. Wien war das erste Institut weltweit, das eine Gerichtsmedizin hatte und wir haben ein unheimliches Fachwissenbei uns im Land. In Österreich gibt es aber eine deutliche Überalterung in unserem Fachgebiet, denn in der Vergangenheit wurde in unserem Bereich zu wenig ausgebildet, das merkt man jetzt schon: Etwa die Hälfte der Gerichtsmediziner in Österreich geht in den nächsten fünf Jahren in Pension und es muss dringend mehr ausgebildet werden, um diesen Verlust auszugleichen.
Ihr Vortrag am Donnerstag trägt den Titel „Vom Frauenmord zur Vaterschaft“. Wie erklärt sich diese Themenvielfalt?
Yen: Die Gerichtsmedizin ist ein unglaublich breites Fachgebiet. Neben der Untersuchung von Gewaltopfern und Tötungsdelikten befassen wir uns auch mit Gutachten zu Verkehrsunfällen, Behandlungsfehlern und auch Vaterschaftstests. Zudem betreiben wir ein DNA-Labor und sind auch in der Toxikologie aktiv. Ein Beispiel: Wir führen Tests durch, um nachzuweisen, ob jemand im Straßenverkehr unter Drogeneinfluss stand. Außerdem arbeiten wir in der forensischen Bildgebung, wo wir 3D-Rekonstruktionen erstellen, um Tatabläufe zu visualisieren. Das Fach deckt also weit mehr ab, als man gemeinhin annimmt.
“Vom Frauenmord zur Vaterschaft”
Vortrag in der Landesbibliothek
Prof. Dr Kathrin Yen ist Ärztliche Direktorin des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg. Sie gründete Österreichs erste Gewaltambulanz und setzt sich für den Schutz von Gewaltopfern ein. In ihrem Vortrag „Vom Frauenmord zur Vaterschaft“ gibt sie Einblicke in die vielfältigen Aufgaben der Gerichtsmedizin.
Wann: Donnerstag, 31. Oktober, 19:30 Uhr
Wo: Vorarlberger Landesbibliothek, Eintritt frei