“Dieser Satz ist inhaltsfrei und anmaßend”

Die ehemalige deutsche Bildungsministerin Annette Schavan spricht im NEUE-Interview über die Wahlplakate der FPÖ, das Christentum als Quelle für Politik und Angela Merkels Haltung in der Migrationsfrage.
Auf den Wahlplakaten der FPÖ liest man an die Bibel angelehnt: „Euer Wille geschehe“. Die katholische Kirche hat darauf mit Kritik reagiert. Wie sehen Sie solche Plakate?
Annette Schavan: Ich finde diesen Satz auf einem Wahlplakat geschmacklos.
Warum?
Schavan: Eine politische Partei bedient sich eines Satzes, der zu tun hat mit der Beziehung zwischen Gott und Mensch. In der Politik geht es aber nicht darum, sondern um ein Gemeinwesen, das zu gestalten ist. So ein Satz sagt überhaupt nicht aus, wie gestaltet werden soll. Er ist inhaltsfrei und anmaßend.

Angesichts der zunehmenden Zustimmung für Parteien wie FPÖ oder AfD nähern sich auch christdemokratische Parteien wie die ÖVP und die CDU/CSU dem rechten politischen Rand an. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?
Schavan: CDU/CSU in Deutschland sind heute nahezu die einzig verbliebene Volkspartei mit einem breiten Spektrum, das vom christlich-sozialen bis hin zu einer konservativen Position geht. Das macht eine Volkspartei aus: Sie will keine Klientelpartei sein, sondern steht für ein breites Meinungsbild in der Gesellschaft. Auch die jetzige CDU wird dieses Spektrum beibehalten, vielleicht mit einem stärkeren Akzent zum Konservativen. Egal wo man in diesem Spektrum steht – entscheidend ist, dass das Christentum als wichtige Quelle für politische Kultur anerkannt wird.

Wo sind für Sie die Grenzen? Welche Positionen sind mit der Christdemokratie nicht vereinbar?
Schavan: Meine Generation ist kirchlich geprägt vom zweiten vatikanischen Konzil. Danach wurde stark an einer modernen christlichen Ethik gearbeitet und dazu gehört auch die Autonomie der Sachbereiche. Das heißt, es gibt zu nahezu allen Themen unter Christen unterschiedliche Positionen. Deshalb darf man nicht vorschnell mit dem Satz sein: „Das ist unchristlich!“ Für mich ist jede Form von Menschenverachtung und Ausgrenzung nicht mit dem Christentum vereinbar. Christentum als Quelle heißt, der Mensch hat eine unverwirkbare Würde, egal woher er kommt, welche Leistung und welche Rolle er hat.
Auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ist in Deutschland auf dem Vormarsch, mit Positionen aus dem rechten und linken politischen Spektrum. Kann man neue Parteien überhaupt noch in rechts oder links einordnen?
Schavan: BSW nennt sich bewusst Bewegung. Nach einem halben Jahr lässt sich meiner Meinung nach nicht absehen, was daraus wird. Sie ist stark auf eine Person ausgelegt, deren Name auch Teil des Bewegungsnamens ist. Es stößt in eine Situation, in der es viel Unzufriedenheit gibt. Das BSW bietet sich denen an, die eine Wahl als Denkzettel nutzen wollen, aber das allein ist noch kein politisches Programm. Darüber hinaus entstehen neue Konstellationen, die sich in das klassische Spektrum von links und rechts nicht bringen lassen. Es gilt der Satz: „Es gibt gute und schlechte Politik“, und was gut und schlecht ist, darüber wird in der Politik gestritten. Vielleicht sind bei manchen Themen die Kategorien links und rechts gar nicht mehr so relevant, wie sie einst waren.

Ihre Zeit als Bundesministerin für Bildung und Forschung endete 2013 mit Ihrem Rücktritt, als Ihnen die Universität Düsseldorf Ihren Doktorgrad wegen Plagiatsvorwürfen in der Doktorarbeit aberkannte. Wie blicken Sie heute auf die Sache zurück?
Schavan: Ich habe mich damals dazu entschieden, nicht den Rest meines Lebens darüber nachzudenken. Wer im öffentlichen Leben steht, ist gefährdet für Vorwürfe und Angriffe aller Art. Und wer weitere Aufgaben übernimmt, wie es bei mir der Fall war, kann sich nicht unentwegt damit beschäftigen.

Sie haben der „Bild“ gesagt, nach der Vorstellung der ersten PISA-Studie 2001 als Präsidentin der Kultusministerkonferenz brauchten Sie Polizeischutz. Wie war die Situation damals?
Schavan: Das war eine komplett aufgeschreckte Stimmung. Die Ergebnisse waren anders als das Selbstbild der deutschen Gesellschaft. Darum gab es so viel Aggressivität und anfangs auch chaotische Diskussionen. Das hat sich längst beruhigt, weil mittlerweile klar ist, solche internationalen Vergleichsstudien helfen, das Bildungssystem zu verbessern und Defizite besser zu erkennen.
Hat man aus heutiger Sicht richtig auf die Ergebnisse der Studie reagiert?
Schavan: Es gab bis 2016 eine klar ansteigende Kurve. Der Wert von frühkindlicher Bildung, der Verbindung von Kita und Schule und der Stärkung der Naturwissenschaften wurde erkannt. Eine Reihe von Maßnahmen wurde verabredet, die geholfen hat. Die letzte PISA-Studie zeigt, dass sich Bildungspolitik heute nochmals vergewissern muss, was die gravierenden Themen sind. Der Schlüssel für ein leistungsfähiges Bildungssystem ist heute in allen europäischen Ländern die internationale Zusammensetzung der Schüler. Wir müssen weg von der Klage, dass da Kinder mit einer Migrationsgeschichte sind, hin dazu, dass wir internationale Gesellschaften haben. Bildungspolitik muss von dieser Realität aus konzipiert werden.

Sie waren Bildungsministerin unter Angela Merkel, die als Freundin von Ihnen gilt. Wie bewerten Sie Merkels Amtszeit als Bundeskanzlerin heute, im Hinblick auf die Ampelkoalition, die nachgefolgt ist?
Schavan: Da ich einige Jahre in der Bundesregierung war, ist das keine Fremdbewertung. Wir sind die Generation, in der die Politik zutiefst überzeugt war, dass sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands die Freiheit auf der ganzen Welt durchsetzt und dazu stehe ich bis heute. Angela Merkel kommt aus Ostdeutschland, für ihr Leben ist die Wiedervereinigung eine komplette Veränderung gewesen. Der Versuch der Ampel, zu sagen, die Malaisen von heute haben ihren Grund in der Merkel-Regierung, sind Ausreden dafür, dass die Regierung in der Bevölkerung nicht das Vertrauen hat, das sie braucht.

Von Merkel bleibt besonders der Satz: „Wir schaffen das“ in Bezug auf die Flüchtlingsbewegung 2015 in Erinnerung. War diese Haltung rückblickend ein Fehler?
Schavan: Nein, das war Leadership. Stellen Sie sich die Chefin eines Unternehmens vor, die in einer anstrengenden Situation sagt: „Das schaffen wir vermutlich nicht.“ Die Situation war anspruchsvoll. Die Willkommenskultur ist von vielen gelebt worden und Angela Merkel hat mit diesem Satz die Engagierten gestärkt. Ich war damals Botschafterin beim Heiligen Stuhl in Rom und habe mitbekommen, wie hoch das Ansehen der deutschen Bundesregierung in der Weltkirche gestiegen ist und wie der Papst darüber gesprochen hat. Natürlich gibt es seither auch Schwierigkeiten. Migrationspolitik bedeutet nicht, die Schleuser zu unterstützen, die Menschen aus Profitgier auf das Meer und damit in den Tod schicken. Jetzt gehört mehr als Willkommenskultur dazu. Es gehört dazu, Menschen in Not Asyl zu gewähren, aber auch, den Schleusern das Handwerk zu legen. 2015 war es eine Politik, die zutiefst dem Ethos in Europa Rechnung trägt.
Stellen Sie sich die Chefin eines Unternehmens vor, die in einer anstrengenden Situation sagt: “Das schaffen wir vermutlich nicht.”
Annette Schavan über Merkels Haltung während der Flüchtlingsbewegung 2015
Wie sehen Sie die Flüchtlingspolitik der aktuellen deutschen Regierung, die kürzlich Kontrollen an allen Grenzen angeordnet hat?
Schavan: Die Entscheidung ist in meinen Augen eine Notmaßnahme, da der Schutz an den Außengrenzen nicht funktioniert. Das wird die erste Aufgabe der neuen Europäischen Kommission sein – ein Vorarlberger (Magnus Brunner, Anm.) ja ist der zuständige Kommissar – sich um das Thema Außengrenzen zu kümmern. Dabei gilt es, eine gute Balance zwischen der Sicherheit der Gesellschaften in Europa und der Not von Menschen zu finden. Wenn das gelingt, braucht es keinen Grenzschutz innerhalb Europas.

Der US-Wahlkampf wird von verbalen Attacken der Spitzenkandidaten und Attentatsversuchen geprägt. Muss sich Europa in Zukunft auch auf Schlammschlachten in Wahlkämpfen einstellen?
Schavan: In den USA erleben wir eine zutiefst gespaltene Gesellschaft und das prägt auch den Wahlkampf. Ich kann nur hoffen, dass das nicht nach Europa überschwappt, denn solche Gesellschaften verlieren ihren inneren Frieden. Umso wichtiger ist es, dass sich Politik in Europa auf die europäische Geschichte und die Quellen besinnt: Die Stärke von Vielfalt. Die Stärke des Christentums. Die Stärke von Aufklärung und Humanismus. Diese Quellen können Europa helfen, tiefgreifende Spaltungen zu vermeiden.
Wie schätzen Sie das Statement von Papst Franziskus zur US-Wahl ein? Er sagte, die Katholiken sollen „das geringere Übel wählen“.
Schavan: Papst Franziskus ist bekannt für seine pointierten Sätze. So werte ich auch diese Aussage.

Inwieweit sollten sich Würdenträger der Kirche in solche Wahlkämpfe einbringen?
Schavan: Würdenträger sind Bürger ihrer Gesellschaft. Sie sind zugleich Personen des öffentlichen Lebens, von denen Orientierung erwartet wird. Deshalb ist es in schwierigen Situationen wichtig, dass sie Orientierung geben. Nicht auf ausgrenzende Art, aber so, wie das Christentum als Quelle es ihrer Verantwortung nahelegt.
Zur Person
Annette Schavan (69) war zwischen 1995 und 2005 Ministerin für Kultus, Jugend und Sport in Baden-Württemberg. Von 2005 bis 2013 war sie die deutsche Bundesministerin für Bildung und Forschung im Dienste der CDU. Sie trat zurück, nachdem ihr Doktorgrad wegen Plagiatsvorwürfen aberkannt wurde. Zwischen 2014 und 2018 war sie die deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl in Rom.