Brunner über Budget-Defizit: “Im Rückspiegel der Geschichte ist man immer gescheiter”

Magnus Brunner spricht mit der NEUE über seinen Start als EU-Kommissar und die Umsetzung des europäischen Migrationspaktes. Im Angesicht des hohen Defizites rechtfertigt er seine Budgetpolitik als Finanzminister.
Mit dem Antrittsbesuch in Schengen und dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien hatten Sie intensive ersten zwei Wochen als EU-Kommissar. Wie haben Sie diese Zeit erlebt und wo lagen Ihre Prioritäten?
Der Besuch in Schengen war ein wichtiges Zeichen. Der Schengen-Raum ist zusammen mit dem Euro und dem Binnenmarkt wohl die größte Errungenschaft der EU. Und diesen mit Rumänien und Bulgarien zu vergrößern, war wichtig. Als Vorarlberger weiß ich, was es bedeutet, an einer Schengen-Außengrenze aufzuwachsen, darum bin ich froh, dass uns die Erweiterung zum Start gelungen ist.

In Syrien bietet der Machtwechsel Herausforderungen, aber auch Chancen. Viele Syrer auf der ganzen Welt haben gefeiert und es gibt die Möglichkeit, dass die Leute freiwillig zurückkehren, um am Wiederaufbau und an der Zukunft des Landes mitzuarbeiten. Auf den zweiten Blick aber muss man abwarten, wie sich die Lage vor Ort langfristig entwickelt.
Darüber hinaus möchte ich in den ersten Monaten eine Strategie für die europäische Sicherheit vorlegen. Wir müssen den Menschen wieder das Gefühl geben, dass wir die Kontrolle über das haben, was in Europa passiert. Dasselbe gilt für den Migrationsbereich, wenn es um die Frage geht, wann Rückführungen möglich sind. Auch hierzu müssen wir so rasch wie möglich eine neue Gesetzgebung auf den Tisch legen. Es gibt also genug zu tun.

Vor zwei Jahren hat die österreichische Regierung noch ein Veto gegen den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien eingelegt, mitgetragen unter anderem von Ihnen als Finanzminister. Warum hat sich die Haltung geändert?
Das Funktionieren des Schengen-Raumes ist vom Außengrenzschutz und der Sicherheit abhängig. Die Bevölkerung muss das Gefühl haben, dass wir Kontrolle darüber haben, was in Europa passiert. Das ist geschehen, Rumänien und Bulgarien haben ihre Hausaufgaben gemacht. Es gibt ein Kooperationsabkommen, bei dem Österreich die Länder im Außengrenzschutz unterstützt.

Ist es anhand der von Ihnen erwähnten offenen Lage in Syrien angebracht, jetzt schon über Rückführungen zu diskutieren und die Asylanträge syrischer Geflüchteter auszusetzen?
Da muss man unterscheiden: Wenn es um freiwillige Rückführungen geht, ja. Das als EU und als Mitgliedsstaat zu unterstützen, sehe ich positiv. Bei angeordneten Rückführungen wäre ich vorsichtig, da sollte man warten, ob sich die Lage stabilisiert. Der dritte Punkt ist die Aussetzung der Bearbeitung von Asylanträgen. Aus meiner Sicht ist das durchaus akzeptabel, vorerst einmal auf die Stopptaste zu drücken und abzuwarten, wie sich die Lage in Syrien weiterentwickelt.
Wie sehen Sie den Vorschlag von Innenminister Karner, Rückkehrern 1000 Euro bezahlen will?
Wie gesagt, wenn es um eine freiwillige Rückkehr geht, sehe ich das positiv. Wenn man einen Anreiz dazugibt, wie Österreich das möchte, kann ich dem durchaus etwas abgewinnen, denn damit soll ja für Syrien wieder eine Zukunft entstehen.

Eine weitere zentrale Aufgabe für Sie wird die Umsetzung des EU-Migrationspaktes. Was sind die wichtigsten Neuerungen, die man sich erwarten darf?
Unter anderem wird ein Screening an der Grenze verordnet. Damit kann man bei Menschen, die ihren Pass weggeworfen haben, mit modernen Systemen besser das Alter und die Herkunft abschätzen. Aktuell erwarten wir die Implementierungspläne des Paktes von den Mitgliedsstaaten. Darin übermitteln die Staaten ihren Zugang, ihre Vorgehensweise in Bezug auf den Pakt. Diese Pläne wollen wir in den kommenden Wochen analysieren. Ich unterstütze aber auch jene Mitgliedsstaaten wie Deutschland, die schneller vorangehen möchten.

Wie bringt man die unterschiedlichen Positionen der europäischen Regierungschefs beim Migrationsthema unter einen Hut?
Das ist eine Herausforderung, keine Frage. Es gibt einen Unterschied, ob man direkt an der EU-Außengrenze ist oder ob man ein Binnenstaat wie Österreich ist, wo man weniger mit dem Druck von außen, aber mehr mit der sekundären Migration konfrontiert ist. Darauf muss man bei der Umsetzung Rücksicht nehmen, das ist auch eine der Grundlagen im Pakt. Allgemein muss man das Migrationsthema man entschlossen, aber fair angehen. Menschenrechte sind zu berücksichtigen, das steht außer Frage.
Kritiker des Paktes argumentieren, dass die illegalen Pushbacks auf dem Mittelmeer und damit auch das Leid der Flüchtenden weitergeht.
Entscheidend ist, die Menschen gar nicht in die gefährliche Situation auf dem Mittelmeer zu bringen. Dafür gilt es, die gesamte Fluchtroute zu betrachten. UNHCR begleitet und beobachtet das genau. Pushbacks sind selbstverständlich nicht zu tolerieren.

Das letzte Budget, das Sie als Finanzminister erstellt haben, weist entgegen den Prognosen ein Defizit von über drei Prozent auf. Hinterlassen Sie Ihrem Nachfolger einen Scherbenhaufen?
Als wir im Oktober 2023 das Budget für dieses Jahr erstellt haben, gingen alle Forscher und Wirtschaftsexperten von einem Wachstum von 1,2 Prozent aus. Mittlerweile hat sich leider in ganz Europa die wirtschaftliche Lage verschlechtert. Jetzt prognostizieren dieselben Experten ein negatives Wachstum von minus 0,6 Prozent. Allein das macht ein über einen Prozentpunkt höheres Defizit aus.
Man kann immer hinterfragen, was man weniger ausgeben hätte müssen. Aber die Unterstützung der Menschen und der Wirtschaft in einer schwierigen Situation mit Teuerung und hoher Inflation war aus unserer Sicht wichtig. Jetzt kann man durchaus sagen, wir haben zu viel ausgeschüttet. Man kann auch über die Treffsicherheit diskutieren. Im Rückspiegel der Geschichte ist man immer gescheiter. Aber wir haben auch viele Reformen umgesetzt, die etwas kosten, etwa der Finanzausgleich oder die angekauften Gasreserven.
Wie sehen Sie ein mögliches Defizitverfahren gegen Österreich von europäischer Ebene?
Die nächste Bundesregierung muss entscheiden, ob sie das in Kauf nimmt oder Reformen und Einsparungen macht.

Zurück zu Ihrer aktuellen Aufgabe: Auf Ihrer Agenda als EU-Kommissar steht auch Inneres. Angesichts der Manipulation bei der rumänischen Präsidentschaftswahl: Wie sicher ist Europa vor äußerer Einflussnahme?
Wie wir in Rumänien gesehen haben, ist das eine riesige Herausforderung. Wir müssen alles daran setzen, sowas zu verhindern. Kurzfristig müssen wir die Digitalstrategie für Europa intensiver und konsequenter vorantreiben. Internetplattformen wie TikTok müssen wir viel stärker in die Pflicht nehmen. Mittel- und längerfristig müssen wir in allen Bereichen das Thema Sicherheit präsent machen, zum Beispiel im Bildungsbereich, wenn es um Fake News geht.
Ab wann ist ein TikTok-Verbot für Sie denkbar?
Prinzipiell bin ich kein Fan von Verboten. Aber wenn die Kooperationsbereitschaft der Plattformen nicht da ist und die Gefährdung Europas zunimmt, muss man über alles Weitere nachdenken.

Welche weiteren Aufgaben kommen in naher Zukunft auf Sie zu?
Der Drogenhandel nimmt in Europa enorm zu, das ist mittlerweile die finanziell lukrativste Kriminalität. Deshalb müssen wir im Kampf gegen den Drogenhandel, aber auch gegen Menschenhandel, intensiver vorgehen. Dafür werden wir eine gemeinsame europäische Hafenstrategie entwickeln, denn die Häfen sind die Umschlagplätze für Drogen. Ein weiterer Punkt auf meiner Agenda ist der Kampf gegen Antisemitismus und gegen Muslimhass.