„Der Horizont springt dort immer weiter“

Interview. Der legendäre Bergsteiger Reinhold Messner gastierte am Mittwoch in Dornbirn. Für die NEUE nahm sich der 80-jährige Südtiroler Zeit und erzählte davon, wie er als erster Mensch alle Achttausender ohne Sauerstoffmaske bestieg – und sprach über Angst, das Leben, den Tod und die Weite.
Sie sind wie so oft für einen Vortrag in Dornbirn, dieses Mal mit dem Thema „Nanga Parbat – mein Schicksalsberg“. Sie haben ja durchaus einige Berührungspunkte mit Vorarlberg, Abfahrtsolympiasieger Egon Zimmermann war einer Ihrer Freunde, Oswald Oelz ist Ihr Höhenphysiologe, der Ihnen 1978 Mut machte, dass eine Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoffmaske medizinisch möglich ist.
Reinhold Messner: Das ist alles richtig, was Sie da sagen. Mit Oswald bin ich nach wie vor sehr eng befreundet, wir haben gemeinsam ein paar Dutzend Expeditionen gemacht. Bei der Everest-Besteigung ohne künstlichen Sauerstoff 1978 war er im Hintergrund der ärztliche Influencer, der mir bestätigte, dass ein Mensch auch in einer Höhe von fast 9000 Metern ohne künstliche Sauerstoffzufuhr überleben und sich fortbewegen kann.
Woher kannten Sie Egon Zimmermann?
Messner: Wir haben uns in Sulden kennengelernt, Egon war ein sehr guter Freund von mir, leider ist er bereits verstorben. Ich bin in letzter Zeit öfters durch Vorarlberg gefahren, entweder von Deutschland kommend oder von der Schweiz. Dass ich jetzt in Dornbirn zwei Vorträge an einem Tag fülle, ist ein kleines Märchen, das hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass ich in Vorarlberg meine ersten Vorträge überhaupt gehalten habe.
Ach wirklich?
Messner: Ja, meine erste Vortragsreise fand vor vielen, vielen Jahren in Vorarlberg statt, Vorarlberger Freunde haben das damals für mich organisiert, die im Übrigen dieses Mal bei meinen Vorträgen dabei waren. Sie sind wie ich älter geworden, aber das ist der Lauf der Zeit.

Eine Geschichte, die nicht altert ist, dass Sie 1988 bei „Verstehen Sie Spaß ..?“ am Fuße des Matterhorngipfels bei einem Streich mit einer versteckten Kamera in eine Falle gelockt wurden. Kurt Felix hatte dort einen Kiosk aufstellen lassen. Als Sie oben ankamen, wurde Ihnen vom vermeintlichen Ladenbesitzer vorgemacht, dass dieser Kiosk ab sofort täglich frisch beliefert wird. Sie waren erbost darüber, dass man an so einem Ort einen Kiosk aufgestellt hat und damit auch hier der Konsum Einzug gehalten hatte. Würde es Sie heute noch überraschen, wenn an solch einem exponierten Ort ein Kiosk oder ähnliches stehen würde?
Messner: Nein, das würde mich nicht mehr überraschen. Das wäre eine lächerliche Reaktion von mir. Denn im Verhältnis zu dem, was inzwischen am Mount Everest passiert, war der vorgegaukelte Kiosk von damals ja völlig harmlos. Am Everest steht zwar kein Kiosk, aber dort sind unvorstellbare Infrastrukturen entstanden. Sherpas bauen in monatelanger Arbeit eine Piste, auf der dann die Alpinisten ganz einfach zu Fuß zum Gipfel spazieren können. Die meisten Alpinisten lassen sich mit einem Hubschrauber vom Basislager aus etwa bis zur halben Strecke hinauf fliegen, den restlichen Weg absolvieren sie im Gänsemarsch. Das ist eine touristische Angelegenheit, man kann das im Reisebüro buchen. Eine Schnellbesteigung des Everest kostet 180.000 Euro. Es gibt Bergsteigerinnen und Bergsteiger, die mehr als fünf Millionen Euro ausgeben. Die sagen: Ich will die besten Sherpas. Geld spielt keine Rolle. Ich zahle alles. Das ist ganz eine andere Dimension als der Kiosk am Matterhorn. Das war eh eine lustige Geschichte, ich konnte darüber lachen und bin oft auf diesen Beitrag angesprochen worden. Ich war sogar ganz froh, dass dieser Streich gedreht wurde.
Weil er letztendlich Ihrer Sache, dem Naturschutz dienlich war und die Vorstellung, dass es solche Kioske eines Tages wirklich auf den Bergen geben könnte, einen Aufschrei ausgelöst haben.
Messner: Dieser Beitrag war ein Wink mit dem Zaunpfahl. Sehr viele Menschen waren sich danach einig, dass das nicht passieren darf. Inzwischen hat man auf Bergen Hütten gebaut, die an exponierteren Positionen stehen als damals der Kiosk bei „Verstehen Sie Spaß ..?“ am Matterhorn.
Die Vorbereitung auf diesen Streich dauerte zwei Jahre. Sie waren damals, wenn ich dieses Bild verwenden darf, am Gipfel Ihrer Popularität. Nachdem Sie im Oktober 1986 als erster Mensch alle Achttausender bestiegen hatten, fand in Sulden eine Feier mit etwa 750 Gästen statt. Das „Aktuelle Sportstudio“ des ZDF machte sogar einen ausgiebigen Live-Einstieg von der Feier in Sulden. War dieser Abend damals ein Höhepunkt für Sie?
Messner: Ich selber lege auf solche Feste keinen großen Wert, ich habe Bergsteigen nie als etwas Patriotisches verstanden, nie als etwas, das ich für ein Land tue oder gut für eine Nation ist. Die Feier hat damals Paul Hanny, ein Suldner, mitorganisiert, ich hätte das nie gemacht. Aber es ist ein schönes Fest geworden, und ich habe mich sehr darüber gefreut, so viele vertraute Gesichter zu sehen, meine Familie, viele Wegbegleiter und Freunde waren da.

Unter anderen der schon erwähnte Egon Zimmermann – und Paul Breitner. Was verbindet Sie mit dem Fußball-Weltmeister von 1974?
Messner: Wir haben uns im Laufe der Jahre einige Male getroffen, er galt als fußballspielender Revoluzzer, als einer, der seine Meinung frei heraus geäußert hat. Ich kannte auch Franz Beckenbauer. Wir gehörten der selben Generation an, und man traf sich bei verschiedenen Gelegenheiten, in Fernsehstudios, bei Veranstaltungen oder auch abseits der Öffentlichkeit. Meine Bekanntheit rührte daher, dass meine Besteigung des Everest ohne Sauerstoff im Vorfeld so skeptisch betrachtet wurde, von der Medizin weltweit, von der Physiologie, der Wissenschaft, und die Bergsteiger waren sowieso dagegen. Aus dieser skeptischen Betrachtung heraus wurde es zum Erfolg, dass mir die Everest-Besteigung ohne Sauerstoff trotz aller Warnungen und Belehrungen gelungen ist, aber es gehört nicht mal zu meinen zehn größten Geschichten.
Sie sahen sich selbst nie als Hochleistungssportler, sondern bezeichnen sich als Eroberer des Nutzlosen, als einen Spieler und gar einen Sadisten.
Messner: Es ist ja auch unnütz, was ich tue. (lacht)
Trotzdem sind Sie nicht zuletzt mit Ihrer Willenskraft und Ihrem Durchhaltevermögen und durch Ihr Wirken ein Vorbild.
Messner: Ich habe nicht die Position des Vorbilds inne, der Meinung bin ich nicht, eher des skeptischen Beobachters der Welt, der seine Schlüsse zieht und nicht die allgemeinen Claqueure bedient. Ich habe in meinen Leben sehr viel Widerstand erfahren. Zu meinem 80. Geburtstag habe ich das Buch „Gegenwind“ geschrieben, darin erzähle ich, dass ich durch die Gegnerschaft gezwungen war, entweder besser zu werden oder mich nicht zufrieden zu geben mit Oberflächlichkeiten. Im Grunde verdanke ich diesen vielen Kritikern die öffentliche Aufmerksamkeit und ein Stück weit auch die Erfolge. Im Rückblick, muss ich sagen, waren es nämlich auch die Gegenspieler, die mich erfolgreich gemacht haben, und nicht nur meine Taten. Wir haben ja schon über die Everest-Begehung ohne Sauerstoffmaske gesprochen, diese Begehung wurde nur dadurch so groß, weil alle sagten, dass es nicht möglich sei.
Sie haben 1982 gesagt, Sie würden noch mindestens zehn Jahre für die fünf noch ausständigen Achttausender brauchen. Tatsächlich schafften Sie es in vier Jahren.
Messner: Wann genau habe ich das gesagt?
Im Oktober 1982, nachdem Sie zuvor als erster Mensch überhaupt in einem Jahr drei Achttausender bestiegen hatten: Kangchendzönga, Gasherbrum II und Broad Peak. Warum ging es so viel schneller als vermutet, die restlichen fünf Achttausender zu besteigen?
Messner: Anfang der 1980er-Jahre war es noch sehr fraglich, wie lange es dauern würde, bis ich die Genehmigungen für die Expeditionen erhalten würde. Es ging um die Einreiseerlaubnis. Sobald ich die hatte, war es nur mehr eine Frage der richtigen Vorbereitung und des Wetters. Die politische Machbarkeit stellte sich rascher ein als vermutet, so konnte ich drei Achttausender in Serie bei einer Expedition machen. Ich war damals so um die 40, im Geiste war ich schon bei der nächsten Lebensphase. Darum wollte ich so schnell wie möglich alle Achttausender abschließen, ich wollte was G’scheites machen, wie die Querung der Antarktis und der Arktis, was noch dümmer war als das davor. (lacht)

Zuletzt wollte Ihnen Achttausender-Chronist Eberhard Jurgalski Ihren Gipfelerfolg auf der Annapurna 1985 aberkennen, womit Sie Ihren Weltrekord verloren hätten, als erster Mensch alle Achttausender begangen zu haben. Der „Spiegel“ griff den Vorwurf auf und verwechselte dabei in einer Grafik sogar die Gipfel.
Messner: Mir wurde vorgeworfen, dass ich nicht auf dem höchsten Punkt gewesen sei, ich wäre am Westgipfel gewesen und hätte am Ostgipfel sein müssen. In Wahrheit ist der Gipfel ein 80 Meter langer flacher Grat, der sich nicht täglich, aber doch alle paar Wochen ändert. Mal ist eine Wechte höher, mal die andere. Das weiß jeder, der am Annapurna schon mal oben war. Die Leute haben keine Ahnung, die das aufgebracht haben. Wir haben eine 4000 Meter hohe Wand durchstiegen, und dann behaupten die, ich sei fünf Meter neben dem eigentlichen Gipfel gestanden. (lacht)
Die Kritiker haben sich sehr gerne an Ihnen abgearbeitet.
Messner: Irgendwelche Wissenschaftler haben von ihren Schreibtischen aus angefangen, viele meiner Expeditionen anzuzweifeln, ohne zu wissen, wie sich ein Berg verändert. Die Schwerkraft wirkt auch auf mehreren Tausend Metern Höhe. Aber davon kann man keine Ahnung haben, wenn man es nie gesehen hat.
Als Sie 1984 zur Doppelüberschreitung der Achttausender Gasherbrum I und II aufbrachen, sagten Sie am frühen Morgen im Basislager: „Wenn wir in 14 Tagen nicht wieder da sind, sind wir tot. Dann braucht ihr uns nicht suchen.“ Diese Klarheit und Nüchternheit im Umgang mit dem Tod fasziniert mich jedes Mal, wenn ich die Dokumentation „Gasherbrum – Der leuchtende Berg“ sehe.
Messner: Das ist eine sehr schöne Stelle eines sehr gut gemachten Films von Werner Herzog, der ein wahres Genie ist. Diese Passage macht den Laien und den Außenstehenden klar, dass wir sehr gut wissen, was wir tun – und dass wir mit der Tatsache, dass es gefährlich ist, sehr gut umgehen können. Sonst könntest du nicht losgehen.
Sie hatten im Juni 1970 am Nanga Parbat, Stunden vor der Tragödie Ihres Bruders Günther, der beim Abstieg starb, eine Nahtoderfahrung.
Messner: Richtig, ich habe schon damals dieses Wort gebraucht, obwohl es diesen Ausdruck noch gar nicht gab. Man wusste nicht, was das sein sollte, eine Nahtoderfahrung, aber ich habe mein Erlebnis genau so beschrieben, wie später in Fachkreisen von Parawissenschaftlern eine Nahtoderfahrung erklärt wurde. Ich fiel hin, aus einer Verzweiflung heraus, denn wir waren in der prekären Situation, dass wir nicht mehr wussten, wie wir runterkommen sollten. Günther war zu diesem Zeitpunkt bereits höhenkrank. Ich sah mich aus mehreren Metern Höhe, wie ich den Berg hinunter rollte, es war nicht steil, ich konnte nicht abstürzen, aber ich hatte keine Kontrolle. Als ich mich selbst von außen sah, zwang ich mich, in meinen Körper zurückzukehren, aufzustehen und Entscheidungen zu treffen.
Die Entscheidung war, nicht über die Rupalwand, der Aufstiegsroute, den Abstieg zu machen, sondern über die etwas leichtere Diamirflanke auf der anderen Bergseite abzusteigen, wodurch es zur ersten Überschreitung des Nanga Parbat kam. Bei diesem gemeinsamen Abstieg verloren Sie den Kontakt zu Günther. Später wurde Ihnen, auch von anderen Teilnehmern der Expedition vorgeworfen, Sie hätten Ihren Bruder für Ihren Ehrgeiz geopfert. Wie sehr hat Sie dieser Vorwurf menschlich verletzt?
Messner: Das war der schlimmste Vorwurf, der kommen konnte. Der Vorwurf wurde ein Leben lang immer wieder umgeändert und an die Öffentlichkeit gebracht, weil das gut verkäuflich war. Der Tod von Günther war für andere das Bestverkäufliche an meinem Leben. Immer wieder haben Menschen neue Geschichten erfunden und dabei das Gegenteil erzählt, was sie fünf Jahre vorher behauptet hatten, Behauptungen von Leuten, die nicht dabei waren. Wenn der „Spiegel“ viele, viele Jahre später getitelt hat: „Der einzige Zeuge“, dann sage ich: Ja, ich war der einzige Zeuge, da kann und will ich nichts dagegen sagen, aber der Titel war keine bloße Feststellung. Der Abstieg über die Rupalwand war nicht machbar, das weiß ich, weil ich dabei war und es erlebt habe.

Sie erinnern sich vermutlich noch sehr klar an den Augenblick, in dem Ihnen unwiderruflich klar wurde, dass ihr Bruder tot ist?
Messner: Dieses Bewusstwerden war ein Prozess. Wir hatten einen Treffpunkt vereinbart, als Günther nicht kam, bin ich zu seinem Standort zurückgegangen und habe alles abgesucht, auch die weite Umgebung. Es waren unendlich viele Gletscherspalten. Der Schnee war hart, das bedeutet, der Schnee war nicht so weich, dass du durchbrichst, Günther musste, dachte ich, in einer Gletscherspalte liegen. Ich habe eine ganze Nacht und einen Tag lang nach ihm gesucht, immer wieder laut nach ihm gerufen, ja gebrüllt. Nach und nach ist mir immer klarer geworden, dass es nur die eine Möglichkeit gab, dass er unter eine Lawine geraten war. Es lagen auch viele Eistrümmer herum. Ausgrabungen machen konnte ich nicht, weil die Fläche viel zu groß war. 35 Jahre später wurde meine Vermutung durch den Fund der Leiche bestätigt.
Mich berührt eine Erzählung Ihres Bruders Hubert, der Sie 1995 bei einer Nordpol-Expedition begleitete. Ihr Bruder rutschte aus, stürzte ins arktische Eiswasser. Eine starke Strömung und riesige Eisbrocken erschwerten das Rauskommen. Hubert beschrieb in seinem Buch: „Reinhold rief nicht meinen Namen. Er rief nach Günther.“ Das zeigt, wie tief der Tod Ihres Bruders Sie nach wie vor mitnimmt.
Messner: Wir waren eine Familie mit neun Kindern, die größeren Geschwister haben auf die kleineren aufgepasst. Günther war ein jüngerer Bruder, am Nanga Parbat nicht meine Pflicht erfüllt zu haben, blieb oder bleibt ein Leben lang eine Last für mich.
Sie haben immer wieder gesagt: Sie tragen die Verantwortung für Günthers Tod, da Sie überlebt haben. Wie schwierig war es für Sie, sich selbst zu vergeben und sich keine Schuldvorwürfe zu machen?
Messner: Je mehr Vorwürfe kamen, umso mehr wurde mir klar, dass ich mit meiner persönlichen Tragödie zurechtkommen muss – ohne mit anderen zu hadern. Ich habe zwar lange Zeit mit denen gehadert, die solche Vorwürfe machten, aber seit vielen Jahrzehnten sage ich: Sagt’s, was ihr wollt’s. Ich weiß, was passiert ist, ich komme damit zurecht, sonst hätte ich mein Leben gar nicht so führen können.
Das heißt, wieder hat Sie der äußere Widerstand stärker gemacht?
Messner: So ist es, Sie haben es verstanden.
Wie haben Ihre Eltern von dem Unglück erfahren?
Messner: Es war mir nicht möglich, es ihnen am Telefon zu sagen, damals waren von Pakistan aus Telefongespräche nach Europa technisch nicht machbar oder nur mit speziellen Anlagen. Die Nachricht vom Unglück verbreitete sich über das Radio, der Pfarrer von Villnöß hat meinen Eltern die Meldung überbracht. Als dann 2005 Günthers Leiche gefunden wurde, haben meine Eltern leider nicht mehr gelebt, dadurch haben sie die Bestätigung meiner Angaben nicht mehr miterlebt. Ich habe dann aber ein Jahr nach dem Leichenfund meine Brüder und meine Schwester eingeladen, mit mir zum Nanga Parbat zu gehen. Wir sind gemeinsam zum Fundort der Leiche gegangen, und ich zeigte ihnen, wo und wie alles passiert ist.
Welche Erinnerungen haben Sie an den 18. August 1980?
Messner: Das genaue Datum habe ich gar nicht mehr im Kopf, aber das war dann wohl der Tag, an dem ich am Everest bei meinem Alleingang in eine Gletscherspalte gefallen bin.

Hat Ihnen in der acht Meter tiefen Gletscherspalte das Leben gerettet, dass Sie ruhig blieben?
Messner: Wenn die Gefahr maximal wird, werden wir ruhig. Wenn die Gefahr noch weiter weg ist, im Vorausvollzug, entsteht eine Angstdecke, aus der man in der akuten Gefahrensituation heraus muss. Sie sagen es richtig, ich bin in diesem Augenblick ruhig geblieben, ich habe nur abgetastet, ob ich verletzt war, das war ich nicht, danach ging es nur mehr analytisch darum, einen Weg heraus zu finden. Das ist so am Berg, das Gestern wird unwichtig, das Morgen wird unwichtig, es zählt nur der Augenblick. Als ich heraußen war, ergab sich eine neue Situation: eine veränderte, neue Wirklichkeit, und ich bin weitergegangen.
Obwohl Sie in der Gletscherspalte das Gelübde abgaben: Wenn ich hier rauskomme, drehe ich um, und ich gehe nie mehr auf einen Achttausender.
Messner: Diese Erlebnisse liegen so weit zurück, wenn ich diese Sachen nicht aufgeschrieben hätte, würde ich jetzt nicht mehr im Detail über diese Geschehnisse Bescheid wissen. Ich habe, Nummer eins, so viele Expeditionen gemacht, an die 100, dadurch überlagern sich, Nummer zwei, die Erinnerungen, wo ist was genau passiert. Ich habe sehr früh angefangen, parallel zu meinem Tun in den Bergen meine Erlebnisse aufzuschreiben. Ohne eine Erzählung, ohne ein Narrativ gäbe es das traditionelle Abenteurertum und damit den Alpinismus nicht.
Luis Trenker hat Sie einst für die Vermarktung Ihrer Expeditionen kritisiert, obwohl es Trenker war, der als Erster das Bergsteigen vermarktete – vor inzwischen 100 Jahren, was seine Vorhaltungen regelrecht absurd machten. Konnten Sie je mit ihm darüber sprechen?
Messner: (lächelt) Ich habe ihn besucht, und dabei stellte sich heraus, dass es die Journalisten waren, die diese Problematik heraufbeschworen, sie wollten, dass Trenker so was sagt. Aber wir hatten eine viel größere Problematik, das war sein Verhalten während der Optionszeit 1939, als wir Südtiroler umgesiedelt werden sollten. Da hat sich Luis Trenker zwiespältig verhalten – und er wusste politisch Bescheid. Man kann nicht sagen, dass er zu naiv war, um die Politik nicht zu überschauen. In dieser Sache haben wir uns wirklich in die Haare gekriegt, ich habe sogar ein Buch darüber geschrieben, nicht über Messner und Trenker, das nicht, aber über die Optionszeit.
Ihr Vater hat mal gesagt: Wenn ich gewusst hätte, wo das hinführt …
Messner: (ergreift das Wort) … dann hätte ich ihn nicht so jung mit in die Berge genommen.
Glauben Sie, dass er das heute auch noch sagen würde?
Messner: Mein Vater ist leider nicht allzu alt geworden, aber in seinen letzten Jahren sagte er: Es ist dein Leben, und ich kann dazu weder Ja noch Nein sagen.
Bleibt zum Schluss dieses wunderbaren Gesprächs noch eine Frage: Erleben Sie manchmal Ihre Gipfelsiege nach, steigen nach wie vor Bilder von Ihren Expeditionen in Ihnen auf?
Messner: Ja, allerdings weniger von den Gipfeln, der Gipfel ist nicht so wichtig, sondern das Zurückkommen, das Heil-Zurückkommen. Oder Bilder von der unendlichen Weite der Antarktis. Bei gutem Wetter kreist in der Antarktis die Sonne über dir 24 Stunden, die Welt wird unendlich, sie wird unendlich groß, denn mit jedem Schritt springt der Horizont ein bisschen weiter – du erreichst ihn nie, weil er immer weiter geht. Die Welt ist dort einfach leer, eine einzige Schneefläche, es ist eine Unendlichkeitserfahrung.
Reinhold Messner
Geboren am: 17. September 1944 in Brixen (Südtirol)
Familie: Verheiratet in dritter Ehe, vier Kinder
Lebt in: Meran, Naturns, München
Aufgewachsen in: Villnöß
Studium: Vermessungskunde an der Universität Padua
Einstiger Beruf: Unterrichtete Mathematik
Bestiegene Achttausender:
1970: Nanga Parbat (8125)
1972: Manaslu (8163)
1975: Gasherbrum I (8080)
1978: Mount Everest (8848)
1978: Nanga Parbat (8125)
1979: K2 (8611)
1980: Mount Everest (8848)
1981: Shishapangma (8027)
1982: Kangchendzönga (8586)
1982: Gasherbrum II (8034)
1982: Broad Peak (8051)
1983: Cho Oyu (8188)
1984: Gasherbrum I (8080)
1984: Gasherbrum II (8034)
1985: Annapurna (8091)
1985: Dhaulagiri (8167)
1986: Makalu (8485)
1986: Lhotse (8516)
Auswahl Expeditionen:
1989/90: Antarktis-Durchquerung
1992: Durchquerung der Wüste Taklamakan
1993: Grönland-Längsdurchquerung
1995: Arktis-Durchquerung (Sibirien–Kanada), gescheitert
2000: Nanga-Parbat-Expedition
2003: Trekking zum Mount Everest
2004: Längsdurchquerung der Wüste Gobi
2010: Trekking zum heiligen Berg Machapuchar
2014: Antarktis-Reise
2015: Umrundung der Nordküste Südamerikas
2016: Spitzbergen-Umrundung
2024: Kailash-Umrundung
Messner Mountain Museum:
Das 2006 eröffnete Messner Mountain Museum (MMM) vereint das Werden und Vergehen der Berge, die Kulturen im Himalaya und die Geschichte Südtirols. Das MMM besteht aus dem zentralen Teil auf Schloss Sigmundskron, hier das Verhältnis zwischen Berg und Mensch im Mittelpunkt, sowie fünf Zweigstellen mit Einzelthemen.