„Du gewinnst Medaillen, wenn du All-in gehst“

Für Alessandro Hämmerle hat mit dem Weltcupauftakt die finale Etappe auf der Road to Livigno begonnen. Einer seiner wichtigsten Begleiter ist der Brazer Gernot Raitmair.
Es sagt eigentlich schon alles über die Wichtigkeit von Gernot Raitmair aus, wenn Olympiasieger Alessandro „Izzi“ Hämmerle über die Bedeutung des Co-Trainers im ÖSV-Snowboardcross-Lager spricht. „Gernot holt einem aus der Komfortzone heraus. Er macht Aspekte zum Thema, die manchmal unbequem sind, aber er stößt damit wichtige Veränderungen an. Gernot ist ein ganz, ganz wichtiger Bestandteil unseres Teams. Ich bin sehr froh, dass er bei uns ist.“ Raitmair koordiniert zum Beispiel im Sommer in Absprache mit dem gesamten Trainerteam das Konditionstraining, basierend auf den Daten und Erkenntnissen des Vorwinters. Umgesetzt werden die Trainingsstrategien vom Konditionstrainer. Im Winter ist der 53-Jährige Teil eines dreiköpfigen Trainerteams, das technische Details umsetzt; und doch sieht er sich während der Saison weniger als Trainer denn als Coach, der die mentale Entwicklung der Athleten vorantreibt. Er hat im Blick, dass die Boardercrosser im Kopf bereit für die Wettkämpfe sind, wobei die unmittelbare Umsetzung durch diverse Mentalcoaches passiert. Raitmair ist also eine Art Supervisor und gleichzeitig doch einfach nur ein Zuarbeiter: So wie das eben bei echter Teamarbeit ist.
Werdegang
Seit 2017 gehört Raitmair dem Trainerteam bei Österreichs Boardercrossern an. In den 1990er-Jahren war der Klostertaler selbst aktiv, fuhr allerdings auf der Profitour der International Snowboarding Federation und nicht bei der FIS, die 1994 erstmals Snowboard-Weltcuprennen veranstaltete und schließlich im Jahr 1996 die Disziplin Snowboardcross ins Programm aufnahm. Als 2002 die Profitour zusammenbrach, war Raitmair mit 30 eigentlich noch jung genug, um zur FIS und damit zum ÖSV zu wechseln. Doch wie so manch anderer Boarder entschied sich der Brazer gegen den Seitenwechsel. Viele Athleten sahen den Einstieg der FIS als eine Art feindliche Übernahme an. Zumal sich 1998 nur jene Boarder für die Olympischen Spiele in Nagano qualifizieren konnten, die im Weltcup starteten. Fair war das nicht. Raitmairs Gründe waren aber auch pragmatischer Natur: Im Weltcup ließ sich im Gegensatz zur ISF-Profitour kaum Geld verdienen. „Ganz abgesehen davon, dass mir überhaupt nicht gefallen hat, wie damals alles abgelaufen ist mit der FIS, blieb mir aus finanzieller Sicht überhaupt keine andere Wahl als aufzuhören. Auch wenn es mir in der Seele weh tat.“
Auf der ISF-Profitour gab es keine nationalen Verbände, sondern Rennställe wie im Rad- oder Motorsport. Ein deutscher Profiteamkollege von Raitmair wechselte nach dem Kollaps der Profitour zum DSV und brachte die Idee auf, dass der Vorarlberger als SBX-Spartentrainer beim Deutschen Skiverband anfangen könnte, wie sich Raitmair erinnert: „Mir gefiel der Gedanke. Ich bin dann nach Planegg bei München zum Sitz des DSV gefahren, habe mir alles angehört und war am Ende so felsenfest von der Idee überzeugt, dass ich unterschrieben habe.“

Neue Ideen
Der heute 53-Jährige begann eine Trainerausbildung, das Know-how, das damals rar gesät war, brachte er sowieso mit – und so stieg der Klostertaler beim DSV zur Leitfigur auf und prägte als Cheftrainer den deutschen Boardercross-Sport. Bis er nach eineinhalb Jahrzehnten schließlich doch zum ÖSV ging, damit wurde er 2017 Teil eines SBX-Teams, das mit Markus Schairer und Alessandro Hämmerle zwei Ausnahmekönner in seinen Reihen hatte. Raitmair brachte viele Ideen mit. Die Plakativste war die Einführung der Starttests im Sommer auf der Birkenwiese – umgesetzt auf Eisschnee, der aus dem Messestadion angekarrt wurde. Seither liefern die Starttests dank vieler gewonnen Daten wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse. Im Sommer waren erstmals die Raceboarder für Starttests in Dornbirn zu Gast, dabei offenbarte Benjamin Karl, wie elementar die Erkenntnisse waren, die er dabei gewonnen hat: „Bei meinen ersten Starts hier beim Starttraining hatte ich eine Geschwindigkeit von 19 Stundenkilometern. Jetzt erreiche ich 27 Stundenkilometer, das ist ein gewaltiger Unterschied. Ich weiß jetzt, dass ich meinen Start 20 Jahre lang falsch gemacht habe.“ Und das will nach fünf Weltmeistertiteln, acht Kugelgewinnen und Karls Olympiasieg 2022 wirklich was heißen.
Bann gebrochen
Raitmair ist auf seinem Gebiet wahrscheinlich weltweit führend. Vergleichen lässt sich das zwar schwer, aber die Erfolge der österreichischen Boardercrosser seit Raitmairs Wechsel zum ÖSV sprechen eine klare Sprache. Bis 2017 gewannen die ÖSV-Boardercrosser bei zwölf Weltmeisterschafen in Summe sechs Medaillen, seit Raitmairs Einstieg beim ÖSV waren es fünf Medaillen bei vier Weltmeisterschaften. Drei Mal ging seither der SBX-Weltcup nach Österreich, die Krönung war selbstredend 2022 der Olympiasieg von Alessandro Hämmerle. Gar nicht eingepreist in diese Bilanz ist der leichtfertig verspielte WM-Doppelsieg im vergangenen Frühjahr, als Jakob Dusek im Zielhang Hämmerle ausbremste und es statt Gold für „Izzi“ und Silber für Dusek „nur“ Bronze für Hämmerle gab.
Freilich: Österreich hatte schon vor Raitmairs Zeit hervorragende Boardercrosser, doch seit Schairers Gold- und Silbermedaille bei den Weltmeisterschaften 2009 und 2013 jagten die rot-weiß-roten Boardercrosser den Medaillen hinterher. Es fehlten Details, es fehlte am Rennglück – und es fehlte am Personal. Es ist zwar klar, dass viele der ÖSV-Erfolge seit 2017 auf das Konto von Izzi Hämmerle gehen, doch Raitmair hat eben seinen Anteil daran, dass der Montafoner sein großes Potenzial voll ausschöpfen konnte. Was den Bogen zu Raitmairs Ansätzen für die mentale Trainingsarbeit spannt. Hämmerle war bei Großereignissen oft nicht frei genug, je mehr Medaillenvergaben ohne ihn stattfanden, desto verkrampfter wurde der nunmehrige Bludenzer. Den Bann brach er 2021 mit WM-Silber.

Mut zum Risiko
Wenn Raitmair über den Hochleistungssport philosophiert und ganz speziell über den Snowboardcross-Sport, dann wird schnell seine Philosophie klar. „Einen Weltklasse-Athleten macht aus, dass er bei 100 Entscheidungen 97 oder 98 Mal richtig liegt. Und diejenigen, die immer noch hervorragend, aber eben etwas schlechter sind, treffen nur bei 90 von 100 Entscheidungen die richtige Wahl. Fehlerfrei ist niemand“, betont Raitmair und erklärt: „Mich bringt es zum Schmunzeln, wenn bei der Sportberichterstattung der Fokus auf den Fehlern liegt. Ein Weltklasse-Stürmer, der eine Großchance ungenützt lässt, ist deswegen kein schlechterer Stürmer. Sorgen muss man sich erst machen, wenn die Chancenverwertung generell schlechter wird.“
Dazu passt auch, dass Raitmair lächelnd bei der Frage abwinkt, ob die Herangehensweise im aktuellen Olympiawinter eine andere sei als in nicht-olympischen Wintern. „Natürlich gehen da die Meinungen auseinander. Aber ich persönlich glaube, dass es extrem kontraproduktiv ist, für ein Großereignis im nächsten Frühjahr die gesamte Saisonabwicklung zu verändern. Damit unterstreicht man nur die Einzigartigkeit eines Rennens, ein Ansatz, der meiner Erfahrung nach zum Scheitern verurteilt ist. Beim DSV wurde so gearbeitet, gebracht hat es uns überhaupt nichts.“ Das würde nicht bedeuten, dass man in einem Olympiawinter nicht auch neue Wege dürfe. Aber: „Nicht wegen den Spielen, sondern weil es neue Ansätze gibt.“
In diesem Licht beleuchtet Raitmair auch, dass Hämmerle bei den Spielen 2022 nach dem Achtelfinale sein Brett wechselte. „Das hat er im Weltcup schon oft gemacht, weil sich im Verlauf eines Bewerbs, der so um die 75 Minuten dauert, die Bedingungen von Heat zu Heat verändern. Das Bemerkenswerte war, dass Izzi nicht gezögert hat, das zu tun, was er bei jedem anderen Rennen auch gemacht hätte. Auch Olympia ist ein Rennen wie jedes andere – nur die Belohnung ist viel, viel größer.“ Und final auf den Punkt bringt es Raitmair, wenn er sagt: „Du gewinnst bei Großereignissen dann Medaillen, wenn du bereit bist, All-in zu gehen und so viel riskierst, dass du scheitern kannst. Wenn du dich das traust, dann hast du den richtigen Zugang zu Olympia. Izzi hat diesen Schritt gemacht, deshalb ist ihm immer alles zuzutrauen, ganz egal, was davor war.“ Beim gestrigen Weltcup-Auftakt in Cervinia schied Hämmerle als Qualifikationsvierter nach einer Windschattenschlacht im Achtelfinale aus. Doch Cervinia ist nicht Livigno. Wenn einer im SBX-Lager weiß, worauf es bei Olympia ankommt, dann Alessandro Hämmerle.
Fortsetzung folgt