Politik

Der Tag, an dem in Österreich die Demokratie zu Bruch ging

05.03.2023 • 13:56 Uhr / 8 Minuten Lesezeit
15. März 1933: Militär vor dem Parlament in Wien. Über die Ringstraße fahren gepanzerten Wagen mit Soldate
15. März 1933: Militär vor dem Parlament in Wien. Über die Ringstraße fahren gepanzerten Wagen mit Soldate APA/Picturedesk

Vor 90 Jahren nützte Bundeskanzler Dollfuß eine Panne im Nationalrat zur Ausschaltung des Parlamentarismus und Errichtung eines autoritären Staates.

Die letzten Nationalratswahlen der Ersten Republik vom 9. November 1930 hatten die Sozialdemokraten mit 72 von 165 Sitzen zur stärksten Fraktion gemacht. Sie verblieben trotzdem auf den Oppositionsbänken, da es den Christlichsozialen gelang, gemeinsam mit dem „Schober-Block“, dem Bündnis aus Großdeutscher Volkspartei und Landbund, eine Mehrheit zu bilden. Da aber Bundeskanzler Karl Buresch sich weigerte, einen explizit „deutschen“ Kurs mitzutragen, schieden die Großdeutschen aus der Regierung aus, die fortan nur über eine hauchdünne Mehrheit verfügte. Am 28. April 1932 stellten die Sozialdemokraten einen Neuwahlantrag, dem die Regierung Buresch mit einem Rücktritt zuvorkam. Bundespräsident Wilhelm Miklas beauftragte daraufhin Engelbert Dollfuß mit der Regierungsbildung. Die Sozialdemokraten lehnten eine Mitwirkung ab und so regierte Dollfuß mit seiner Christlichsozialen Partei gemeinsam mit dem Landbund und dem Heimatblock mit einer einzigen Stimme Mehrheit gegenüber der Opposition aus Sozialdemokraten und Großdeutschen.

Diese labile politische Situation war nicht dazu angetan, die ökonomischen, sozialen und politischen Folgen der Weltwirtschaftskrise, die Österreich besonders stark getroffen hatte, zu bewältigen. Ein Drittel der Arbeitsplätze war verloren gegangen, viele Menschen hatten sogar die Arbeitslosenunterstützung schon verloren und waren „ausgesteuert“. Resignation machte sich breit, wie die berühmte Studie über die Arbeitslosen von Marienthal eindrucksvoll zeigt.

Zudem war der Aufstieg der Nationalsozialisten bei den Landtags- und Gemeinderatswahlen des Jahres 1932 deutlich sichtbar geworden. In Wien erreichten sie am 24. April 17,4 Prozent, auf Kosten der Christlichsozialen Partei. In Salzburg errangen sie sogar 20,8 Prozent, wobei die Christlichsozialen 10 Prozent und die Sozialdemokraten 7 Prozent einbüßten. Eine Neuwahl im Bund schien daher für die Regierung keine vernünftige Option zu sein. Ihre hauchdünne Mehrheit wäre wohl nicht zu verteidigen gewesen. Als am 30. Januar 1933 dazu noch Adolf Hitler die Macht in Deutschland übernahm, stärkte das die Nationalsozialisten in Österreich zusätzlich und brachte das Land in eine prekäre außenpolitische Situation zwischen Hitler, Mussolini und dem Horthy-Regime in Ungarn. Die Hirtenberger Waffenaffäre vom Jänner 1933, als die Arbeiterzeitung aufdeckte, dass etwa 40 Eisenbahnwaggons mit Gewehren und Maschinengewehren, die die Italiener im Ersten Weltkrieg der Habsburgerarmee abgenommen hatten, über die Waffenfabrik in Hirtenberg nach Ungarn geschmuggelt werden sollten (mit Abzweigungen für die Heimwehr), heizte das wechselseitige politische Misstrauen zusätzlich an.

Im Nationalrat stand am 4. März 1933 eine Debatte zu einem Eisenbahnerstreik auf der Tagesordnung. Mit diesem Streik hatten die Eisenbahner am 1. März dagegen protestiert, dass ihnen die Gehälter für den März in drei Raten ausgezahlt werden sollten. Für zwei Stunden stand an diesem Tag auch der internationale Fernverkehr still.

Drei Anträge wurden an diesem Tag zu den Eisenbahnern gestellt. Die Sozialdemokraten forderten, dass die Generaldirektion der Bundesbahnen „die ihren Bediensteten gebührenden Dienstbezüge dienstordnungs- und vertragsgemäß ausbezahle“ und dass es keinerlei Strafmaß

nahmen gegen die Streikenden geben dürfe. Die Großdeutschen forderten „die Rückführung der Bundesbahnen in die Hoheitsverwaltung und damit die Gleichstellung der Bundesbahnangestellten mit den Bundesangestellten“ und verlangten Nachsicht mit den Streikenden. Die Christlichsozialen forderten hingegen Konsequenzen für die Streikenden. Da sich die Anträge nicht vollständig gegenseitig ausschlossen, sollten sie in der Reihenfolge der Einbringung abgestimmt werden.

Abstimmungen hatten namentlich zu erfolgen und alle anwesenden Abgeordneten hatten sich daran zu beteiligen. Der sozialdemokratische Antrag wurde mit 92 zu 70 Stimmen abgelehnt. Als der zweite Teil des Antrags der Großdeutschen, der die Nachsicht mit den Streikenden verlangte, abgestimmt wurde, betrug die Zahl der abgegebenen Stimmen 161, und mit 81 zu 80 galt der Antrag zur Überraschung fast aller als angenommen. Da dieser Antrag jenem der Christlichsozialen widersprach, schien eine Abstimmung über den dritten Antrag nicht mehr sinnvoll. Nach heftigen Diskussionen kam es zu einer Sitzungsunterbrechung. Danach folgte die überraschende Mitteilung des Präsidenten, dass es bei der letzten Abstimmung eine Panne gegeben hatte. Sowohl der Abgeordnete Abram als auch sein Sitznachbar Scheibein hatten einen Stimmzettel eingeworfen, in der Urne fanden sich aber zwei Stimmzettel von Abram und keiner von Scheibein. Obwohl also offensichtlich eine Verwechslung vorlag, entbrannte eine heftige Diskussion um die Gültigkeit der Abstimmung, die ja nur eine Stimme Mehrheit ergeben hatte. Karl Renner, der den Vorsitz führte, legte, „da ein großer Teil des Hauses den Entscheidungen des Präsidiums widerspricht“, seine Stelle als Präsident nieder. Rudolf Ramek von den Christlichsozialen war nun also Präsident. Er wollte die Abstimmung für ungültig erklären. Als das keine Mehrheit fand, trat auch Ramek als Präsident zurück. Der dritte Präsident, Sepp Straffner von den Großdeutschen, sah sich überfordert und „nicht in der Lage, die Sitzung des Hauses weiterzuführen“ und trat ebenfalls zurück. Um 21.55 endete die Sitzung somit ohne formalen Schlussakt.

Bundeskanzler Engelbert Dollfuss von der Christlichsozialen schaltete das Parlament aus und errichtete einen autoritäten Staat. 1934 wurde er von den Nationalszialisten ermordet
Bundeskanzler Engelbert Dollfuss von der Christlichsozialen schaltete das Parlament aus und errichtete einen autoritäten Staat. 1934 wurde er von den Nationalszialisten ermordetAPA

Engelbert Dollfuß nützte die Situation sofort aus. Sein Bild von der „Selbstausschaltung“ des österreichischen Parlaments wurde für einige Jahre geschichtsmächtig und fand selbst in der Zweiten Republik noch vereinzelt Zustimmung. Dollfuß konnte und wollte autoritär regieren, und er konnte das durch das bereits in der demokratischen Phase der Ersten Republik erprobte Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1917, das nie außer Kraft gesetzt worden war. Die Opposition, vor allem die Sozialdemokratie, reagierte zwar heftig, war sich aber der Tragweite der Ereignisse nicht bewusst. Schon einen Tag später richtete sich die volle politische Aufmerksamkeit wieder auf Deutschland, wo Hitler gerade entscheidende Schritte in Richtung Diktatur setzte.

Als die Opposition am 15. März die aus ihrer Sicht nur unterbrochene Nationalratssitzung wieder aufnehmen wollte, wurde dies mit dem Einsatz der Exekutive zumindest teilweise verhindert. Straffner widerrief in der Rumpfsitzung seinen Rücktritt und schloss die Sitzung, aus seiner Sicht durchaus regelkonform. Da Polizeipräsident Franz Brandl die Anweisungen der Regierung Dollfuß zur Verhinderung der Nationalratssitzung nicht konsequent genug umgesetzt hatte, wurde er am nächsten Tag zwangspensioniert.

Dass der Bundespräsident nicht eingriff – er hätte die Regierung abberufen können – war seiner raschen Einbindung in die Regierungspläne geschuldet. Über eine Million Menschen unterschrieben eine Petition an den Präsidenten, das Echo blieb aus. Als die Wiener Landesregierung den Verfassungsgerichtshof anrief, wurde dieser lahmgelegt, da ein regierungstreues Mitglied ausschied und die Beschlussfähigkeit nicht mehr gegeben war.

Ein Generalstreik, auf den sich die Regierung schon vorbereitet hatte, war ausgeblieben. Zu sehr hatte die große Wirtschaftskrise die Entschlusskraft der politischen Linken geschwächt. Und die großdeutsche Opposition sah mit Spannung auf die Ereignisse im Nachbarland Deutschland. So wurde in Österreich der Boden der Demokratie weitgehend kampflos aufgegeben.

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Zum Autor

Helmut Konrad, geboren 1948 in Wolfsberg, studierte in Wien Geschichte und Germanistik. Nach einer ersten Station in Linz wurde er 1984 als Professor für Zeitgeschichte an die Uni Graz berufen, deren Rektor er von 1993 bis 1997 war. 2021 erschien im Picus Verlag „Das Private ist politisch“, eine Biografie der „Journalisten Marianne und Oscar Pollak.

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