Haben Sie Gewalt im SOS-Kinderdorf miterlebt? “Ja, aber nicht bei uns”

Hartinger
Markus Krajisnik über seine gute Zeit im SOS-Kinderdorf Dornbirn, Begegnungen mit der Gründergestalt Hermann Gmeiner, seine Wut darüber, dass jahrelang weggeschaut wurde – und warum jetzt eine schonungslose Aufarbeitung notwendig ist.
Wann und warum sind Sie im SOS-Kinderdorf Dornbirn gelandet?
Markus Krajisnik: Ich bin im Sommer 1983, eine Woche vor Schulschluss, mit meinem Bruder ins SOS-Kinderdorf Dornbirn gekommen. Da war ich acht Jahre alt. Wir hatten schon viele Pflegeplätze hinter uns, bevor wir dort gelandet sind. Bei mir waren es insgesamt 16.
Sie waren also schon als Kleinkind fremduntergebracht?
Krajisnik: Ja, das hat sehr früh begonnen, als ich sechs oder sieben Monate alt war. Meine Eltern waren einfach nicht in der Lage, Vater und Mutter zu sein.
Wie haben Sie den Moment erlebt, als Sie ins SOS-Kinderdorf gekommen sind?
Krajisnik: Es war ein Ankommen. Ich habe ja gewusst, warum es so sein muss. Zu Hause gab es Probleme mit Alkohol und Gewalt. Ich habe sofort gespürt: Hier ist ein sicheres Nest. Was ich sehr gut in Erinnerung habe, ist die Gemeinschaft. Ich wusste, dass ich nicht der einzige mit so einer Geschichte bin. Aber niemand hat gefragt: Warum bist du da? Das hat uns zusammengeschweißt. Es war etwas Besonderes, so viele Geschwister zu haben, auch wenn es nicht die leiblichen waren. Und bei der Kinderdorfmutter hattest du nie das Gefühl, sie ist eine Angestellte. Sie war Tag und Nacht da. Sie war unsere Mama.
Nun wissen wir heute, dass die SOS-Kinderdörfer leider nicht für alle Kinder ein sicheres Nest waren. In mehreren Heimen soll es zu systematischer Gewalt und sexuellen Übergriffen gekommen sein, die Berichte haben sich regelrecht überschlagen. Haben Sie Gewalt erlebt oder mitbekommen?
Krajisnik: Mitbekommen hab ich das, ja, aber nicht bei uns im Dorf. Unser Dorfleiter war da sehr streng. Er hat Gewalt nie geduldet. Weder unter den Kindern noch von Erwachsenen gegenüber Kindern. Ich kann mich erinnern, dass eine Kinderdorfmutter wegen ihrer Erziehungsmethoden gehen musste. In den Ferienlagern habe ich mitbekommen, dass man in anderen Dörfern härter mit den Kindern umging. Da hat es schon mal eine Ohrfeige gegeben oder jemand wurde fest am Arm gepackt. Damals hat man sich aber nicht viel dabei gedacht.
Gab es Gerüchte über sexuelle Übergriffe?
Krajisnik: Nein, davon habe ich in meiner Zeit im SOS-Kinderdorf und auch nachher nie gehört. Man hat nur mitbekommen, dass mal jemand gehen musste, weil es nicht mehr gepasst hat. Aber konkrete Gerüchte über sexuellen Missbrauch gab es nicht.

Zur Person
Markus Krajisnik
Geboren: 1975 in Bludenz
Familie: verheiratet, zwei Kinder
Ausbildung und beruflicher Werdegang: Lehre Hotel- und Gastgewerbeassistent im Hotel Rickatschwende, 1996 eigenes Unternehmen gegründet (Team Aktiv Ticket & Event GmbH)
Hobbys: Fußball, Skifahren, Tennis und gut essen gehen.
So wie es derzeit aussieht, dürften einige der zahlreichen Vorwürfe über Jahre und Jahrzehnte vertuscht worden sein.
Krajisnik: Die Führungsebene von SOS-Kinderdorf Österreich und auch international hätte viel früher, wenn nicht sofort, reagieren müssen. Sie hätten sagen müssen: Stopp! Das SOS-Kinderdorf lebt von der öffentlichen Hand. Das ist keine Schokoladenfabrik, wo es darum geht, ein Produkt weiterzuverkaufen. Da geht es um Menschen, um Kinder. Da darf man keine Sekunde zögern. Da muss man sofort transparent sein.
Und warum, glauben Sie, war man das nicht?
Krajisnik: Für mich gibt es nur einen Grund. Es durfte nicht öffentlich werden, weil man Angst vor sinkenden Spenden hatte. Es ist verheerend, wenn man dafür die Kinder verkauft. Man kann nicht nach außen sagen, man hat ein großes Herz und schützt die Kinder, und im Hintergrund werden Misshandlungen geduldet. Es macht mich wütend, dass man hier offenbar weggeschaut hat.
![ABD0031_20251023 – WIEN –
STERREICH: ++ ARCHIVBILD ++ ZU APA0077 VOM 23.10.2025 – Gegen den 1986 verstorbenen Grnder der SOS-Kinderdrfer, Hermann Gmeiner, gibt es schwere Missbrauchsvorwrfe. Wie die Organisation der APA sagte, steht der Grnder im Verdacht, an zumindest acht minderjhrigen Burschen “sexuelle Gewalt und Misshandlungen” ausgebt zu haben. Im Bild: Undatiertes Archivbild von Hermann […]](/2025/10/ABD0031-20251023-1-768x1183.jpg)
Auch gegen den 1986 verstorbenen SOS-Kinderdorf-Gründer Hermann Gmeiner gibt es schwere Vorwürfe. Was haben Sie für Erfahrungen mit ihm gemacht? Sind Sie ihm begegnet?
Krajisnik: Ich habe Hermann Gmeiner mehrmals getroffen, weil ich im Kinderchor war. Der Chor lag ihm sehr am Herzen. Wir hatten viele Auftritte. In Italien, in Kirchen, bei Hochzeiten oder in anderen Kinderdörfern. Da hat man ihn immer wieder gesehen. Einmal, in einem Ferienlager in Italien, habe ich mich mit ein paar Freunden gestritten und gehauen. Ich habe mich hinter einem Zelt versteckt. Hermann hat gehört, dass jemand weint, hat sich zu mir hingesetzt und mit mir geredet. Am Schluss gab er mir 200 Lire und sagte, ich soll mir und den anderen ein Eis kaufen und dass sich dann alles wieder einrenken würde. Das Eis habe ich später allein gegessen (lacht). Nein, ich persönlich kann sagen, ich habe bei ihm nie etwas Negatives erlebt. Aber ich möchte trotzdem nicht ausschließen, dass die Vorwürfe, so wie sie sich jetzt darstellen, stimmen. Um ihn waren jedenfalls immer viele Kinder. Für uns war er wie ein Rock’n’Roller, ein Superstar. Der Hermann, der alles gerichtet hat.
Dass die gegen Gmeiner erhobenen Vorwürfe nicht stimmen, kann man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen. Zumindest wurden die bisher gemeldeten acht Fälle zwischen den 1950er- und 1980-Jahren im Opferschutzverfahren nach einer Plausibilitätsprüfung anerkannt und entschädigt. Eines der Opfer war übrigens laut SOS-Kinderdorf in Vorarlberg untergebracht. Wie gehen Sie persönlich mit diesem Spannungsfeld um: Einerseits Ihre guten Erinnerungen an Hermann Gmeiner, andererseits die schweren Vorwürfe gegen ihn?
Krajisnik: Wenn man so etwas hört, ist man natürlich entsetzt. Ich bin froh und dankbar, dass der Herr Gmeiner diese Idee mit dem SOS-Kinderdorf gehabt hat. Ohne dieses Zuhause wäre ich heute nicht der, der ich bin. Aber das, was da passiert sein soll, entschuldige ich auf keinen Fall. Wichtig ist jetzt, alles aufzuarbeiten: Wer war verantwortlich? Wer hat weggeschaut oder nichts unternommen? Für jene, die etwas getan haben oder weggeschaut haben, muss es Konsequenzen geben. Aber man darf bitte nicht alle anderen verurteilen. Wir dürfen nicht vergessen, dass weltweit über 55.000 Kinder in der Obhut des SOS-Kinderdorfs stehen. Wenn jetzt Spenden ausbleiben oder jemand sagt, „das braucht’s doch alles nicht mehr“, dann trifft das genau die Falschen. Die Kinder können nichts dafür. Darum: aufarbeiten, die Täter bestrafen, aber die Kinder nicht vergessen. Jeder Cent hilft.

Aber irgendwie ist es ja auch nachvollziehbar, dass sich jetzt viele mit Spenden zurückhalten.
Krajisnik: Ja, schon. Aber gerade deshalb möchte ich ein Signal setzen. Es ist das gute Recht der Spenderinnen und Spender, selbst zu entscheiden, ob und wem sie ihr Vertrauen schenken. Eine Spende ist immer etwas Freiwilliges, etwas Menschliches. Aber man darf bitte nicht vergessen, worum es hier geht. Die Kinder brauchen die Unterstützung mehr denn je.
Wie stehen Sie dazu, dass Straßen und Plätze, die nach Hermann Gmeiner benannt sind, umbenannt werden sollen?
Krajisnik: Ich habe damit kein Problem. Ich hätte nur ein Problem, wenn man jetzt sagen würde: Wir sperren die Häuser zu und schicken die Kinder weg. Aber wenn man meint, eine Straße oder ein Platz soll nicht mehr so heißen, finde ich das legitim.
Hat der Persönlichkeitskult um Hermann Gmeiner Ihrer Meinung nach zur Vertuschung beigetragen?
Krajisnik: Ich denke, dass es generell schwer ist für Menschen, die so in der Öffentlichkeit stehen, mit Fehlentscheidungen und Fehlern umzugehen. Entschuldigt aber nicht, dass Dinge vertuscht werden.
Gmeiner wurde jahrzehntelang als „Pionier der Menschlichkeit“ bezeichnet. Sehen Sie ihn heute noch so oder hat sich dieses Bild für Sie verändert?
Krajisnik: Für mich hat sich das Bild nicht verändert. Er war und ist ein Pionier in dem, was er geschaffen hat.
Sie haben in unserem Vorgespräch erwähnt, dass Sie immer noch mit dem SOS-Kinderdorf verbunden sind. Inwiefern?
Krajisnik: Einmal SOS-Kinderdorf, immer SOS-Kinderdorf. Ich telefoniere fast täglich mit meiner Kinderdorfmutter. Und auch mit dem ehemaligen Kinderdorfleiter bin ich nach wie vor sehr eng verbunden. Wir treffen uns zu unseren Geburtstagen, er ruft jedes Jahr bei mir an, und ein- bis zweimal im Jahr kommt er auch zu mir nach Hause.
Was braucht es für eine Neuaufstellung des SOS-Kinderdorfs?
Krajisnik: Sie muss auf mehreren Ebenen passieren: wirtschaftlich, organisatorisch und gesellschaftlich. Es braucht klare Strukturen, mehr Transparenz und Menschen, die wirtschaftlich denken, aber gleichzeitig das Soziale nicht vergessen. In die Gremien sollten meiner Meinung nach auch ehemalige SOS-Kinderdorfkinder miteinbezogen werden. Sie wissen am besten, worum es geht. Auch Jugendliche, die heute dort leben, sollten die Möglichkeit haben, ihre Erfahrungen einzubringen. So würde man erfahren, wie es ihnen wirklich geht, und das würde der Organisation mehr Offenheit und Glaubwürdigkeit verleihen.