“Für mich persönlich war das natürlich ‘schiach'”

Lena Schilling, die EU-Spitzenkandidatin der Grünen, spricht über die Vorwürfe gegen sie und ihre Reaktion darauf. Außerdem übt sie Kritik an der FPÖ und an der Klimapolitik der ÖVP.
Sie haben turbulente Wochen hinter sich, nachdem der Standard zahlreiche Vorwürfe gegen Sie zutage gefördert hat. Wie viel Kraft hat es gekostet, Zielscheibe solcher Vorwürfe zu sein?
Lena Schilling: Wenn man in die Politik geht, ist man trotz allem ein Mensch. Ein Mensch, der Gefühle hat, den solche Dinge mitnehmen. Aber – und das ist das Wichtigste – ich habe mich daran erinnert, warum ich mit Politik angefangen habe. Es gibt mir ganz viel Kraft, zu wissen, ich kann für Gerechtigkeit kämpfen und alles dafür geben, dass die Welt ein Stück besser wird. Deshalb bin ich hier und kann gut über die Vorwürfe reden.

Können Sie sich vorstellen, aus welchem Motiv Personen aus Ihrem Umfeld solche Vorwürfe an die Presse tragen?
Schilling: Einerseits sind das Menschen, die in anderen politischen Parteien aktiv sind – beispielsweise sozialdemokratische oder kommunistische Parteimitglieder. Die fanden es von Anfang an furchtbar, dass ich mir überlegt habe, für die Grünen zu kandidieren. Für mich war es auch kein einfacher Prozess, zu sagen, aus der Klimabewegung in die Parteipolitik zu wechseln und für die Grünen anzutreten. Da gab es durchaus Turbulenzen in meinem Freundeskreis. Ich hätte nur nie gedacht, dass man privateste Chatnachrichten an die Presse spielt und damit Politik machen will, denn so sollte Politik nicht sein.
Hand aufs Herz: Haben Sie je an einen Rücktritt gedacht?
Schilling: Es gab Tage, die waren hart, da will ich ehrlich sein. Natürlich ist man traurig, wenn Freundinnen und Freunde so etwas tun. Aber ich habe in meinem Leben noch nie so viel Rückhalt gespürt. Die Grünen sind von Anfang an neben und hinter mir gestanden und haben mir in jeder unsicheren Situation klargemacht, dass wir das gemeinsam durchstehen. Deshalb ehrlicherweise: Nein.

Die Pressekonferenz nach den Vorwürfen blieb in Erinnerung, nicht zuletzt wegen Werner Koglers „Gemurkse und Gefurze“-Sager. Olga Voglauer stellte diese Woche in den Raum, SPÖ-Spitzenkandidat Andreas Schieder hätte etwas mit den Vorwürfen zu tun und sprach in diesem Zusammenhang von „Silberstein-Methoden“. Hätten Sie sich rückblickend eine andere öffentliche Aufarbeitung der Vorwürfe gewünscht?
Schilling: Die beiden haben sich entschuldigt und die Verbindung zu Andreas Schieder zu ziehen, war nicht richtig. Aber: Der Chef des Presserats hat letzte Woche festgestellt, dass so eine Situation noch nie dagewesen ist. Noch nie wurden von jemandem solche Nachrichten verwendet, noch nie sind solche Berichte erschienen. Das ist Neuland, und in einer solchen Situation läuft Krisenkommunikation nicht immer optimal. Am Ende des Tages hat sich die Partei hinter mich gestellt und dass der ein oder andere Formfehler passiert sein mag, kann sein. Aber ich bin als junge Frau angetreten und wir haben gewusst, dass das ein Risiko ist. Denn mit jungen Frauen wird in der Öffentlichkeit anders umgegangen. Jetzt sind wir an dem Punkt, an dem das passiert ist.

Wie sehen Sie es aus medienethischer Perspektive, wenn Recherchen von Journalisten öffentlich als „Gemurkse und Gefurze“ abgetan werden?
Schilling: Ich bin niemand, der Journalistinnen und Journalisten sagen will, was sie zu schreiben haben. Es ist wichtig, dass wir kritische Medien haben. Aber es gibt eine nie dagewesene Art von Artikel und wenn der Presserat entschieden hat, können wir das Ganze einordnen. Für mich persönlich war das natürlich „schiach“.
Sie posteten nach den ersten Veröffentlichungen auf X, Ihnen würden allerhand Dinge unterstellt, die ausschließlich Ihren Charakter infrage stellen. Nichts von alledem habe mit Politik zu tun. Ist die Politik für Sie nicht auch Charakterfrage?
Schilling: Natürlich ist es eine Charakterfrage. Aber es kommt darauf an, wen man befragt. Wenn man 50 Leute aus einem Umfeld befragt, das böse auf einen ist, kann sich jeder vorstellen, dass kein besonders gutes Bild von mir herauskommt. Glaubt irgendwer, auf dieser Basis meinen Charakter beurteilen zu können? Ich denke nicht, dass man so ein Bild davon bekommt, wie ich als Mensch bin. Jetzt stehe ich auf der Straße und kämpfe mit ganzem Herzen dafür zu zeigen, was für ein Mensch ich bin und wie ich Politik mache.

Berichtet wurde auch, Sie hätten in einem Chat geschrieben, Sie hätten ihr Leben lang “niemanden so sehr gehasst” wie die Grünen. Würden Sie eine Partei wählen, deren Spitzenkandidatin im Vorfeld mitteilte, sie hasse ihre Partei?
Schilling: Die Frage ist, warum es diese Nachricht gibt. Wenn man es in Kontext setzt: auf jeden Fall. Natürlich sind die Grünen für mich als ehemalige Klimaaktivistin die Partei, von der ich mir am meisten erwartet habe. Als die Grünen in einer Regierung mit der ÖVP waren, ist mir ist nicht genug weitergegangen. Ich habe die Grünen auch oft öffentlich kritisiert. Das ist ja kein Geheimnis. Zudem komme ich aus einem sozialdemokratisch-kommunistischen Haushalt. Auch meiner Familie war es schwer, zu erklären, warum ich für die Grünen kandidiere. Aber ich habe mich bewusst für diese Partei entschieden, weil die Grünen die einzigen Sind, die es mit dem Klimaschutz ernst meinen. Solche Nachrichten hätte man ab dem Moment, als ich die Entscheidung traf, niemals von mir gelesen.
Kritik zu Ihrer Person kam auch vom ehemaligen Grünen EU-Abgeordneten Johannes Voggenhuber, der Sie als „zu jung“ für die Aufgabe im Europaparlament bezeichnete und meinte, bei manchen Themen braucht man eine „gewisse Lebenserfahrung.“ Wie viel Lebenserfahrung braucht man Ihrer Meinung nach in der EU-Politik?
Schilling: Die Frage ist eher, wie wir uns Parlamente wünschen. Ich wünsche mir Parlamente, die unsere Gesellschaft abbilden. Da gibt es ältere Menschen mit viel Erfahrung und junge Menschen, die mit viel Leidenschaft aus Bewegungen kommen. Da gibt es Frauen und Männer, da gibt es Leute mit unterschiedlichen Hintergründen. Parlamente sind dann gut, wenn sie all diese Lebensrealitäten mitnehmen. Ich wünsche mir, dass mehr Frauen und mehr junge Leute Politik machen. Deswegen trete ich an.

Die Causa um Ihre Person scheint den Grünen laut Umfragen nicht geschadet zu haben, die Rede ist von minus 3 Prozentpunkten. Im aktuellen APA-OGM-Vertrauensindex sind Sie allerdings auf einen Wert von minus 50 abgestürzt, dahinter liegt nur mehr Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP). Wie schätzen Sie diese Umfrage- und Vertrauenswerte ein?
Schilling: Wir haben uns das genau angeschaut, denn diese Werte haben mich zuerst total schockiert. Anfang März, bevor diese ganze Causa öffentlich wurde, waren die Menschen, die mir vertrauen, bei 17 Prozent. Jetzt ist diese Seite bei 14 Prozent. Auf der anderen Seite stehen Menschen, die mich vorher nicht gekannt haben und die jetzt drei Wochen lang die Berichterstattung über mich gelesen haben. Dass die kein sonderlich gutes Bild von mir haben, wundert mich ehrlicherweise nicht. Der Vertrauensindex zeigt, dass ich jetzt Haltung zeigen und wie eine Löwin für die Themen kämpfen muss, für die ich stehe, um wieder Vertrauen zurückzugewinnen.
Wenn wir bei Umfragen bleiben: Die FPÖ liegt umfrageübergreifend auf Platz eins. Immer wieder haben Sie die Partei und Ihren Spitzenkandidaten Harald Vilimsky öffentlich kritisiert. Zeigt das keine Wirkung? Liegt die FPÖ uneinholbar auf Platz eins?
Schilling: Eine Sache macht die FPÖ gut und das ist gleichzeitig der einzige Grund, warum sie Wahlen gewinnt: Sie adressiert Probleme von Menschen, bringt aber keine Lösungen dafür. Sie schürt Ängste und Hass und macht damit Politik. Ich verstehe, dass Menschen angesichts von Klimakrise, Pandemie und Kriegen Angst haben. Das trifft mich genauso, ich habe auch Angst. Wir dürfen nur nicht so tun, als hätte die FPÖ auch nur irgendeine Lösung für ein Problem. Sie macht die Probleme de facto größer. Wenn die FPÖ in einer Regierung ist, dann werden Sozialleistungen gekürzt, die Krankenkassen zusammengelegt und Frauenrechte, die Demokratie, die Presse- und die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Das wünsche ich mir nicht.

Wie können die Grünen und andere Parteien gegensteuern? Auch wenn die FPÖ, wie Sie sagen, keine Lösungen anbietet, kommt die Partei doch gut bei den Wählern an.
Schilling: Wir müssen die Sorgen von Menschen wahrnehmen und im Gespräch mit ihnen bleiben. Ich komme aus der Zivilgesellschaft, wo Politik auf der Straße, in Schulen, in Betrieben stattfindet. Das müssen wir weiterführen.
In Deutschland überprüft der Verfassungsschutz die AfD als rechtsextremen Verdachtsfall, hat sie in Teilen des Landes schon als gesichert rechtsextrem eingestuft. Nun wurde sie sogar aus der ID-Fraktion im EU-Parlament ausgeschlossen. Wie sollte man mit „gesichert rechtsextremen“ Parteien umgehen? Ist ein Verbot eine Option?
Schilling: Es braucht ein paar Dinge. Erstens müssen wir sehr genau hinschauen, wo zum Beispiel NS-verharmlosende oder strafrechtliche relevante Dinge gesagt werden, und diese müssen wir verurteilen. Die AfD ist ausgeschlossen worden, weil ihr Spitzenkandidat Maximilian Krah gesagt hat, nicht alle SS-Männer wären Verbrecher gewesen. Da wurde das Nazi-Regime verharmlost. Daher ist es gut, dass die AfD aus der ID ausgeschlossen wurde. Das muss so bleiben. Zweitens müssen wir die Probleme der Menschen sehen und adressieren. Das Dritte ist – und darum bin ich kein großer Fan eines Verbots – wir brauchen einen gesellschaftlichen Wandel. Wir müssen das so lösen, dass viele Menschen sehen, dass Rechtsextremismus ein Problem ist und keine Lösung.
Ein anderes Grünes Kernthema ist der Klimaschutz. Hier steht Österreich vor milliardenschweren Strafzahlungen, weil die EU-Ziele zur Emissionsverringerung bis 2030 nicht eingehalten werden. Woran liegt es, dass die Bundesregierung trotz Grüner Regierungsbeteiligung nicht genug gegen den Klimawandel tut?
Schilling: Die Grünen haben viel für den Klimaschutz getan, trotz der ÖVP. Wenn wir eine ÖVP in der Regierung haben, die kein Klimaschutzgesetz will und die den nationalen Klima- und Energieplan, der von Leonore Gewessler schon abgeschickt wurde, wieder zurückholt, kommen wir nicht weiter. Die Blockadehaltung der ÖVP muss endlich enden. Ich kann Ihnen versprechen, in einer Grünen Alleinregierung wäre sehr viel mehr weitergegangen.

Als historisch gilt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der zur Klage der Schweizer KlimaSeniorinnen urteilte, Klimaschutz sei ein Menschenrecht. Wie ordnen Sie die Tragweite dieses Urteils ein?
Schilling: Es ist sicherlich ein Hebel. In Zukunft wird es sicherlich weitere Klimaklagen geben, weil wir viele Menschenrechte einschränken, wenn wir die Klimakrise nicht angehen, zum Beispiel das Recht auf Wasser und Nahrung. Es braucht aber nicht nur Klagen, die Politik muss auf sie auch reagieren.
Hier in Feldkirch sorgt das Stadttunnel-Projekt für viel Kontroverse. Nun wurde der Bau des Projekts gestoppt wegen einem Formfehler im UVP-Verfahren. Klimaschutzbewegungen feiern das als Erfolg und hoffen, dass das Projekt damit abgesagt ist. Für wie realistisch halten Sie es, dass weitere große Verkehrsprojekte verhindert werden können?
Schilling: Ich kenne das Projekt von Freundinnen und Freunden, die hier in der Klimabewegung aktiv sind. Ich habe selbst mit „Lobau bleibt“ etwas Ähnliches gemacht. Wir haben versucht, den Lobautunnel, einen Autobahntunnel unter einem Naturschutzgebiet, zu verhindern. Das ist gelungen, weil wir eine Grüne Umweltministerin hatten, die den Bau abgesagt hat. Diese Erfolge können erzielt werden, wenn Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen in der Politik sind, die es ernst meinen. Es braucht auch den Druck der Straße: Bewegungen, Bürgerinitiativen und Petitionen.

Großes Thema ist auf EU-Ebene aktuell das Renaturierungsgesetz. In Vorarlberg hat sich beispielsweise der Grüne Umweltlandesrat Daniel Zadra für, Landeshauptmann Markus Wallner gegen das Gesetz ausgesprochen. Wie schätzen Sie das Tauziehen um das Renaturierungsgesetz ein? Und was soll das Gesetz Ihrer Meinung nach bewirken?
Schilling: Wir brauchen das Renaturierungsgesetz unbedingt. Es geht darum, dass wir 20 Prozent der Flächen zurück zu einem natürlichen Ursprung bringen. Das bedeutet: Moore wieder zu verwässern, Wälder aufzuforsten und Boden zu entsiegeln. Wir sind nicht Europameister im Fußball, aber bei der Bodenversiegelung europaweit ganz vorne dabei. Jeden Tag sterben 140 Tier- und Pflanzenarten aus. Wenn wir keine Insekten mehr haben, wie sollen wir Nahrung produzieren? Die Ministerin wird dem Gesetz zustimmen, aber dafür müssen die SPÖ – oder die ÖVP, aber das würde mich wundern – ihre Blockadehaltung in den Bundesländern aufgibt.
Wie bewerten Sie die Asyl- und Migrationspolitik der EU? Was muss sich hier ändern?
Schilling: Was sich ändern muss, ist, dass wir gemeinsam und menschliche Asylpolitik machen. Wir haben eine europäische Menschenrechtskonvention und auf die bin ich stolz, weil wir Standards gesetzt haben, nach denen wir Menschen wie Menschen behandeln, egal woher sie kommen. Wir brauchen einen schnellen Verteilungsschlüssel, an den sich alle EU-Staaten halten. Zudem braucht es schnelle, faire Asylverfahren und Rückführungsabkommen, wenn Asylbescheide negativ ausfallen, aber auch Integrationsmaßnahmen.

Wie bewerten Sie die Pushbacks der Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer?
Schilling: Wir wissen, dass Pushbacks illegal sind, und die verurteile ich zutiefst. Letztes Jahr sind 2500 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Wir müssen Menschen, die vor dem Ertrinken stehen, retten. Das heißt nicht, dass sie alle einen Aufenthaltsstatus kriegen, aber wir haben die Pflicht, Menschen zu helfen.
Zum Schluss: Kennen Sie alle EU-Staaten? Zählen Sie bitte auf.
Schilling: Natürlich kenne ich sie alle. Es sind 27, und weil Sie diese Frage keinem anderen Spitzenkandidaten stellen würden und für alle dieselben Spielregeln gelten sollen, schlage ich vor, wir reden über das, was die Zukunft bewegt. Zum Beispiel über Erweiterungen und die Frage, wie wir es schaffen können, mehr Staaten in einen Zustand zu bringen, indem sie der EU beitreten können. Wir haben nicht nur eine europäische Union, sondern auch einen Europarat, in dem deutlich mehr Länder vertreten sind. Wir sollten darüber reden, wie wir Länder im Balkan oder Georgien, wo es derzeit Unruhen gibt, näher an einen EU-Status bringen können.

Zur person
Lena Schilling, geboren 2001 in Wien, engagierte sich bei Fridays for Future und bei der Besetzung der Baustelle des Lobautunnels. Nachdem sie im Jänner 2024 bekanntgab, für die Grünen bei der EU-Wahl teilzunehmen, wurden im Mai zahlreiche Vorwürfe gegen die 23-Jährige bekannt. Unter anderem geht es um eine Unterlassungsklage und den falschen Vorwurf der Belästigung gegen einen Journalisten.