Vorarlberg

„Vielleicht erspare ich anderen diesen Schmerz“

16.02.2025 • 09:00 Uhr
„Vielleicht erspare ich anderen diesen Schmerz“
In jedem Raum von Carolines Wohnung ist die Trauer um Christian präsent. Hartinger

Vor wenigen Wochen hat sich Carolines Sohn Christian (15) das Leben genommen. Noch immer sucht die Mutter aus Bregenz nach Antworten.

Christian war ein fröhlicher Bursche. Ein 15-Jähriger, der Fußball spielte, der zuletzt mit einem Freund in Dornbirn mit dem Boxen begonnen hatte. Ein Jugendlicher, der immer verlässlich war, sich meldete, wenn etwas war. Doch vor drei Wochen nahm sich Christian das Leben – und hinterlässt eine Familie, die nach Antworten sucht.

„Vielleicht erspare ich anderen diesen Schmerz“

Seine Mutter erinnert sich an die letzten Worte, die er zu ihr sagte: „Tschüss Mama, ich komme gleich wieder.“ Es war Dienstag, 18.30 Uhr. Doch er kam nicht mehr nach Hause. Um 23 Uhr meldete sie ihn als vermisst. „Bei seinem Freund war er nie angekommen“, sagt sie. Die ganze Nacht suchte Caroline nach ihrem Sohn. Am Mittwochvormittag klingelten Polizei und Kriseninterventionsteam an ihrer Tür und überbrachten ihr die schreckliche Nachricht vom Tod ihres geliebten Sohnes.

„Vielleicht erspare ich anderen diesen Schmerz“

Mobbing als Ursache?

Ein Video, das Caroline nach seinem Tod zugeschickt wurde, zeigt, dass Christian offenbar gemobbt wurde – wegen seines Übergewichts. „Man sagte mir, das sei nur Spaß gewesen“, erzählt Caroline. Doch im Video sei ihr Sohn den Tränen nahe gewesen. Von Mitschülern erfuhr sie, dass er in der Schule drangsaliert wurde. Man habe ihm Geld und seine Jause weggenommen. „Ich befürchte, dass seine Peiniger sich jetzt das nächste Opfer suchen.“

„Vielleicht erspare ich anderen diesen Schmerz“
Auf dem Video, das Caroline zugeschickt bekommen hat, ist Christian den Tränen nahe. Hartinger

Ungeklärte Fragen

Viele Fragen sind für die alleinerziehende Mutter noch offen: „Wo war Christian zwischen 18.30 Uhr und 2 Uhr nachts?“, fragt sie sich. Sie hat seinen Mobilfunkanbieter kontaktiert, um Geodaten zu erhalten. War es eine Mutprobe, die schiefgegangen ist? Es wurde kein Abschiedsbrief gefunden, die toxikologische Blutuntersuchung war unauffällig, Fremdeinwirkung wurde ausgeschlossen. Caroline sucht nach Antworten – und will verhindern, dass andere Familien das Gleiche erleben müssen. „Ich konnte meinen Sohn nicht retten, aber vielleicht erspare ich anderen diesen Schmerz, wenn ich damit an die Öffentlichkeit gehe.“
In den Stunden der Ungewissheit durchsuchte sie Straßen, Plätze, sprach mit Freunden von Christian und hoffte verzweifelt auf eine Spur. „Ich habe ihn im ganzen Viertel überall gesucht. Ich wollte einfach nur wissen, wo er war. Vielleicht hätte ich ihn noch retten können“, sagt sie. Doch sie blieb ohne Hinweise. Die Polizei konnte sie erst am Morgen über den tragischen Tod ihres Sohnes informieren.

„Vielleicht erspare ich anderen diesen Schmerz“

Demütigungen

Christian war sehr verlässlich, er erzählte seiner Mutter viel. Doch das Thema Mobbing kam dabei nie zur Sprache. „Früher war man das Mobbing los, wenn man nicht in der Schule war. Heute kommt man nicht mehr aus, weil Videos und dergleichen in sozialen Medien geteilt oder herumgeschickt werden“, sagt Caroline. Auch die Polizei hat sich mit dem Material auseinandergesetzt. „Sie haben sich wirklich Zeit für mich genommen“, sagt sie. „Mir wurde aber auch gesagt, dass ich hier nur die Möglichkeit hätte, zivilrechtlich vorzugehen. Von der Schule wartet sie bis heute vergeblich auf eine Reaktion.

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Wegen des Videos und Erzählungen seiner Mitschüler ist Caroline überzeugt, dass Christian in der Schule gemobbt wurde. Hartinger

Mobbing im digitalen Zeitalter hat außerdem eine andere Dimension erreicht. Es ist nicht mehr auf das Schulgelände beschränkt, sondern begleitet Betroffene rund um die Uhr. „Kinder werden nicht nur ausgelacht oder ausgeschlossen, sie werden systematisch gedemütigt – öffentlich und auch online“, erklärt Caroline. Dabei sei vielen nicht bewusst, wie tief die Wunden sind, die sie damit reißen. „Ein einziges Video, ein einziger verletzender Kommentar kann eine fürchterliche Kettenreaktion auslösen. Und für die Betroffenen gibt es oft keinen Ausweg mehr.“

Zuhause voller Erinnerungen

In der Wohnung von Caroline ist Christian noch überall präsent. In jedem Zimmer hängen Fotos von ihm. Sie hat noch drei weitere Söhne – sieben, elf und 14 Jahre alt. „Eine Hälfte meines Herzens ist tot, aber die andere ist für meine drei Buben da. Tagsüber muss ich stark sein, aber nachts ist es ganz schlimm.“ Gemeinsam mit ihren Kindern hat sie in ihrer Wohnung eine Ecke geschaffen, die sie „Chiller-Ecke-Chrise“ nennen. Ein Ort, an dem seine Brüder und seine Freunde zusammenkommen. „Mein Jüngster hat bei der Beerdigung am Sarg zu Christian gesagt: ‚Du passt jetzt auf uns auf‘.“ Caroline kann nicht loslassen, die Geschichte ist noch immer unfassbar für sie. Doch sie hat ein Ziel: „Kinder sind sich nicht bewusst, was sie anderen damit antun. Ich will, dass sich das ändert und möchte so viele Menschen wie möglich auf das Thema aufmerksam machen.“ Sie hat sich daher mit dem deutschen Mobbing-Präventionsexperten Carsten Stahl in Verbindung gesetzt, um Bewusstsein zu schaffen und Betroffenen zu helfen.

„Vielleicht erspare ich anderen diesen Schmerz“

Aufruf an Eltern und Lehrer

Ich wünsche mir, dass Eltern wachsamer sind. Dass sie auf Veränderungen im Verhalten ihrer Kinder achten, nachfragen, sich einmischen. Manchmal sind es Kleinigkeiten, die auf ein Problem hinweisen“, sagt Caroline. Auch Lehrkräfte müssten stärker sensibilisiert werden. „Man darf Mobbing nicht als ‚harmlosen Spaß‘ abtun. Die Folgen können verheerend sein.“

Ihr Wunsch: Mehr Aufklärung, mehr Zivilcourage. „Es geht mir nicht allein um mein Kind. Es geht um alle, die gerade in einer ähnlichen Situation sind. Es geht mir vor allem darum, Leben zu retten“, betont Caroline.

Große Stützen

Trotz der schlimmen Tragödie ist die Bregenzerin dankbar für die Unterstützung, die sie von vielen Seiten erhalten hat und heute noch erhält. „Ohne das Kriseninterventionsteam wäre ich verloren gewesen. Diese Menschen leisten unglaublich wertvolle Arbeit, die mit Geld nicht aufzuwiegen ist“, betont Caroline. „Auch die Freunde und Mitschüler von Christian sind große Stützen für uns, die mir und meinen drei Buben Halt und Zuversicht in dieser schwierigen Zeit geben.“

„Eine Gefahr für Kinder und Jugendliche“

Koordinationsstelle Mobbing

Interview. Gisela Rauscher und Doris Hörburger von der Koordinationsstelle Mobbing der Bildungsdirektion Vorarlberg sprechen über Prävention, Maßnahmen und Hilfe bei Mobbing.

Welche präventiven Maßnahmen werden gesetzt, um Mobbing zu erkennen und zu verhindern?
Gisela Rauscher:
Grundsätzlich sind alle Aktionen präventiv, die das Klassenklima stärken und ein gewaltfreies Miteinander fördern. Hier kann schon ein Klassenrat behilflich sein, der Raum gibt, Unsicherheiten im Miteinander aufzugreifen. Ebenso kann das Thema im Rahmen des Sozialen Lernens vertieft werden. Eine Möglichkeit, präventive Maßnahmen in Anspruch zu nehmen, besteht für Schulen auch in Form von Workshops der Offenen Jugendarbeit zum Thema Gewalt- und Mobbingprävention im Allgemeinen, sowie in weiterer Folge zu Cybermobbing. Ebenso können einige Schulen auf Lehrpersonen zurückgreifen, welche die Ausbildung zum Freiburger Sozialtraining absolviert haben und dieses umsetzen können.

Was, wenn man sich als Elternteil unsicher ist, ob es sich um Mobbing handelt?
Doris Hörburger:
Hier kann die Koordinationsstelle Mobbing als beratende Instanz herangezogen werden, ebenso das Unterstützungspersonal vor Ort in den Schulen. Generell ist wichtig zu wissen, dass Präventionsangebote einen Startschuss bieten können für eine weitere Behandlung des Themas in den einzelnen Schulklassen und den Schulen. Sie dienen vor allem der Sensibilisierung. Ein Workshop alleine wird Mobbing auf Dauer nicht verhindern. Es wichtig, über die Erkennungsmerkmale und Dynamiken von Mobbing Bescheid zu wissen.

Welche Möglichkeiten haben Eltern, wenn sie das Gefühl haben, dass ihr Kind gemobbt wird?
Rauscher:
Eltern können sich an die Koordinationsstelle Mobbing wenden, die für alle Schulen in Vorarlberg zuständig ist. Bei Bedarf wird die Schulleitung kontaktiert, um weitere Schritte einzuleiten. Die Koordinationsstelle unterstützt und evaluiert den Verlauf.

Hat sich die Problematik durch Soziale Medien verändert?
Hörburger:
Der schnelle und ungefilterte Zugang zu Sozialen Medien und die ungeübte Verwendung digitaler Kommunikation stellen ein großes Problem dar. Durch den fehlenden direkten Kontakt mit dem Gegenüber sinkt die Hemmschwelle. In Kombination mit einer allgemeinen „Verrohung“ der Sprache bietet dies eine optimale Plattform für Mobbinghandlungen. Betroffene fühlen sich irritiert und verunsichert, da sich das Verhalten der Mitschüler im realen Zusammensein oft anders präsentiert als beispielsweise im Klassenchat. Es fällt ihnen aufgrund dessen noch schwerer, klare Grenzen zu setzen bzw. sich zu schützen. Soziale Medien bieten eine Vielzahl an „blinden Flecken“ für uns Erwachsene, schnelle und nur schwer kontrollierbare Dynamiken können entstehen und eine Gefahr für Kinder und Jugendliche darstellen. Cybermobbing ist keine eigenständige Form des Mobbings, sondern verstärkt bestehende Dynamiken.

Wo finden Betroffene in Vorarlberg Hilfe?
Rauscher:
Neben der Koordinationsstelle Mobbing gibt es Schulpsycholog:innen, Schulsozialarbeiter:innen und pädagogische Berater:innen an Schulen. Außerschulisch helfen das ifs Kinder- und Jugendberatung oder die Kinder- und Jugendanwaltschaft bei psychosozialen und rechtlichen Fragen.

Hilfe bei Mobbing

anlaufstellen in Vorarlberg

  • Koordinationsstelle Mobbing der Bildungsdirektion
    Beratung und Unterstützung für Schulen, Eltern und Schüler
  • ifs Kinder- und Jugendberatung
    Psychosoziale Hilfestellungen
  • Kinder- und Jugendanwaltschaft
    Rechtliche Unterstützung für Kinder und Jugendliche.

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