Vorarlberg

Jetzt reden die Spitalsärzte: So sieht der Klinikalltag wirklich aus

09.04.2025 • 17:51 Uhr
Ärzte Hohenems
Anästhäsistin Claudie Riedlinger und Internist Luca Gallastroni geben Einblicke in ihren Arbeitsalltag. Hartinger

Wie sich der Spitalsalltag verändert und was das für Ärzte bedeutet. Zwei Vorarlberger Mediziner berichten von Bürokratie, Reformdruck und dem Wunsch, trotzdem zu bleiben.

Im Krankenhausalltag ist jede Minute kostbar – und viele davon verschwinden hinter dem Bildschirm. „Wenn ich einen Patienten schon kenne und schon einige Informationen über ihn habe, brauche ich fünf Minuten fürs Gespräch. Für die Dokumentation danach aber 20 Minuten“, sagt Claudia Riedlinger (62), Anästhesistin am Landeskrankenhaus Bregenz. Seit 35 Jahren steht sie im OP und sieht, wie sich der Beruf über die Jahre verändert hat. Weniger ist planbar, mehr muss parallel laufen. Die Zeit für Gespräche mit Patienten werde kürzer. „Das ist schade, denn oft bräuchte es genau das – Zeit.“

Auch ihr Kollege Luca Gallastroni (30) kennt das Spannungsfeld zwischen Anspruch und Realität. Der Internist arbeitet seit sechs Jahren im Krankenhaus Hohenems. „Ich erlebe den Beruf als sehr erfüllend, aber manchmal denke ich schon darüber nach, wie lange ich das Tempo durchhalte.“ Besonders dann, wenn er nach einer langen Dienstwoche seine beiden Kinder kaum gesehen hat, werden Gedanken an einen Wechsel in den niedergelassenen Bereich stärker.

Hilfe oder Hemmschuh?

Ein Thema, das beide eint, ist die Bürokratie. Die Digitalisierung habe vieles verändert, aber nicht immer verbessert. „Es war früher auch schon viel Dokumentation nötig“, sagt Riedlinger. „Aber mit jedem neuen System ist der Aufwand nicht kleiner geworden.“ Gerade die elektronische Fieberkurve, das E-Rezept oder der Zugriff auf Patienteninformationen sei teilweise umständlich, langsam oder redundant. „Ich muss oft Informationen doppelt und dreifach erfassen. Die Pflege tut dasselbe. Das kostet uns Zeit, die wir eigentlich den Patienten widmen sollten.“

Gallastroni ergänzt: „Bei niedergelassenen Kollegen läuft vieles schneller. Die Programme sind schlanker, übersichtlicher. Im Spital dagegen kämpfen wir mit veralteter Infrastruktur und überkomplexen Abläufen.“ Besonders frustrierend sei es, wenn sich Patientendaten trotz der elektronischen Gesundheitsakte (ELGA) nicht abrufen lassen oder Anwendungen nicht zuverlässig funktionieren. „Das System ist oft so unflexibel, dass es menschliche Lösungen verhindert.“

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Dokumente oder Menschen?

Dabei wäre die Entlastung so dringend notwendig. In der jüngsten Spitalsärztebefragung gaben rund zwei Drittel der Befragten an, dass Bürokratie und administrative Aufgaben einen zu großen Anteil ihres Arbeitsalltags einnehmen. Auch in Vorarlberg werden die Werte so eingeschätzt. Riedlinger sagt: „Viele haben das Gefühl, mehr mit Dokumenten als mit Menschen zu arbeiten.“

In Zahlen zeigt sich das deutlich: Laut aktueller Befragung wenden Ärzte in Vorarlberg im Schnitt 39 Prozent ihrer Arbeitszeit für administrative Aufgaben auf, für Forschung und Lehre bleiben nur sechs Prozent. Damit liegt das Land im Österreich­schnitt, aber weit entfernt von einer akademisch orientierten Spitalsstruktur.

Strukturreform?

Mit Skepsis und Sorge beobachten beide die angekündigte Strukturreform im Landesgesundheitswesen. Gesundheitslandesrätin Martina Rüscher will Fachbereiche bündeln, Standorte aufeinander abstimmen und Doppelgleisigkeiten abbauen. Ziel sei eine bessere Planbarkeit und Versorgungssicherheit. Im Interview mit der NEUE betonte Rüscher: „Wir werden Abteilungen zusammenführen – nicht aus Spargründen, sondern um Qualität zu sichern.“

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Für Riedlinger ist das nachvollziehbar, aber unter Bedingungen. „Man darf uns nicht wie Schachfiguren über das Land verteilen. Wenn ich regelmäßig zwischen Häusern pendle, verliere ich den Bezug zu meinem Team und zu den Abläufen. Das stresst sowohl fachlich als auch menschlich.“

Auch Gallastroni warnt vor einer Zersplitterung: „Gerade für uns Jüngere ist es wichtig, in einem stabilen Umfeld ausgebildet zu werden. Wenn ich ständig woanders bin, muss ich mich jedes Mal neu einfinden. Das kostet Zeit und Vertrauen.“ Eine durchdachte Rotation sei sinnvoll, aber nur, wenn sie planbar und freiwillig erfolge. „Wenn das Gefühl fehlt, dazuzugehören, wirkt sich das auch auf die Motivation aus. Die Ausbildung leidet also mit, weil einfach keine Luft mehr bleibt“, sagt Gallastroni. „Wenn die Fachärzte für ihre eigene Arbeit kaum Zeit haben, bleibt die Ausbildung zwangsläufig auf der Strecke.“

In der Praxis bedeute diese Verlagerung oft auch zusätzliche Wege und Zeitverlust. „Wenn Fachabteilungen getrennt werden, leidet die Zusammenarbeit“, sagt Riedlinger. „Gerade in Notfallsituationen zählt jede Minute und jedes eingespielte Team.“ Für viele sei die Verbundenheit mit dem Haus, mit dem Kollegium, ein wesentlicher Grund, überhaupt im Krankenhaus zu bleiben.

Mit durchschnittlich 46 Stunden pro Woche – inklusive Nachtdiensten – liegen die Vorarlberger Spitalsärzte exakt im Bundesschnitt. Besonders auffällig in diesem Zusammenhang: Nur 34 Prozent der Ärztinnen und Ärzte geben an, dass sie auf ihrer Abteilung durch Assistenzberufe bei der Dokumentation unterstützt werden. Zwei Drittel stehen mit dem Mehraufwand alleine da.

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Anspruch versus Realität

Nicht nur die internen Strukturen verändern sich, auch der Umgangston auf den Gängen hat sich verschärft. Beide berichten von einem gestiegenen Erwartungsdruck seitens der Patientinnen und Patienten. „Es kommt vor, dass jemand sagt: Ich zahle Ihre Stelle, also machen Sie jetzt!“, erzählt Riedlinger. Früher habe man mehr Verständnis erlebt, heute sei die Ungeduld größer. Gallastroni erlebt ähnliche Situationen: „Die meisten Menschen kommen mit echter Sorge. Sie haben Schmerzen, sind verunsichert und erwarten schnelle Antworten. Wenn dann noch lange Wartezeiten dazukommen, kippt die Stimmung schnell.“ Der häufige Personalwechsel tue sein Übriges. „Patienten sind sensibel. Wenn sie jeden Tag ein neues Gesicht sehen, fragen sie sich: Wer kennt mich überhaupt?“

Auch viele Angehörige seien ungeduldiger geworden. „Der Ton ist rauer. Es wird schneller gedroht – mit Beschwerden, mit Klagen. Das war vor einigen Jahren noch nicht so“, sagt Riedlinger. Sie spricht sich klar für ein freundliches, transparentes Miteinander aus: „Dazu gehört auch gegenseitiger Respekt“. Sechs von zehn Spitalsärzten im Land sagen, dass ihre Arbeit in den letzten fünf Jahren unangenehmer geworden ist. Als stärksten Belastungsfaktor nennen sie die Verwaltung, noch vor Nachtdiensten und Zeitdruck. Damit wird einmal mehr deutlich: Es fehlt nicht nur an Personal, sondern auch an Struktur.

Ärzte aus Leidenschaft

Und doch bleiben beide, aus Überzeugung. „Wenn ein Patient zu mir sagt: Danke, dass Sie da waren, dann weiß ich, warum ich das mache“, sagt Gallastroni. Riedlinger nickt. „Es ist ein fordernder Beruf, aber auch ein enorm sinnvoller. Und so lange ich das spüre, arbeite ich gern weiter.“

Beide wünschen sich weniger Bürokratie, mehr Zeit für Menschen und Reformen, die mit den Menschen gemacht werden, statt über ihre Köpfe hinweg. „Wir wollen Teil der Lösung sein, aber wir brauchen auch Strukturen, die das ermöglichen.“ Medizin sei keine Fließbandarbeit: „Sie lebt vom Dialog, vom Vertrauen und von der Zeit, die man sich füreinander nimmt.“

  • 29,3 Prozent der eingeladenen Spitalsärztinnen und -ärzte in Vorarlberg haben an der bundesweiten Befragung teilgenommen – so viele wie in keinem anderen Bundesland.
  • 46 Stunden pro Woche beträgt die durchschnittliche Arbeitszeit von Spitalsärztinnen und -ärzten in Vorarlberg – Nachtdienste und Bereitschaften bereits eingerechnet.
  • 4,3 Nachtdienste im Monat leisten Ärztinnen und Ärzte im Landeskrankenhaus durchschnittlich – eine Belastung, die Schlaf und Privatleben spürbar einschränkt.
  • 39 Prozent der Arbeitszeit verbringen Spitalsärztinnen und -ärzte in Vorarlberg mit administrativen Tätigkeiten – mehr als jeder dritte Arbeitstag geht dafür verloren.
  • 34 Prozent der Befragten geben an, bei der Dokumentation im Spital durch Assistenzpersonal unterstützt zu werden – zwei Drittel arbeiten ohne Entlastung.
  • 59 Prozent der Vorarlberger Befragten sagen, dass ihre Arbeit im Spital in den vergangenen fünf Jahren unangenehmer geworden ist – ein deutliches Alarmsignal.