KIT Vorarlberg: “Offen reden und vor allem zuhören”

Nach dem Amoklauf in Graz: Psychologin Veronika Burtscher-Kiene ist ehrenamtliche Mitarbeiterin beim Kriseninterventionsteam Vorarlberg und erklärt im NEUE-Interview, wie Erwachsene mit Jugendlichen über traumatische Ereignisse sprechen können.
Wie spricht man mit Jugendlichen über ein traumatisches Ereignis wie einen Amoklauf? Was ist hilfreich, was ist unbedingt zu vermeiden?
Veronika Burtscher-Kiene: Wenn Erwachsene mit Jugendlichen über ein traumatisches Ereignis sprechen, ist eine offene Gesprächsführung wichtig. Sie dürfen keine Scheu vor dem Thema haben und müssen das Geschehene beim Namen nennen. Es jedoch in einer dem Alter entsprechenden Sprache beschreiben. Wichtig ist, den Jugendlichen Raum für Fragen, für Sorgen, Ängste und Unsicherheiten zu lassen. Sie sollen darin ernst genommen werden. Gefühle, die mit dem realen Geschehen konform gehen, dürfen nicht relativiert werden.
Als Erwachsene sollten wir unbedingt vermeiden, die Ängste der Jugendlichen zu verstärken oder sie abzuschwächen. Gleichzeitig ist zu vermeiden, eigene Ängste und Sorgen an die jungen Menschen weiterzugeben.
Welche typischen Reaktionen zeigen Kinder und Jugendliche auf eine solche Tat? Woran erkennt man, ob professionelle Hilfe nötig ist?
Burtscher-Kiene: Kinder und Jugendliche reagieren sehr unterschiedlich auf eine solche Tat. Es kann von Ängsten und Zurückgezogenheit, Unsicherheit, zunehmender Nervosität, Alpträumen, Schulängsten bis hin auch zu Desinteresse gehen. Wichtig ist, die jungen Menschen über die nächsten Wochen zu beobachten. Offen zu bleiben, für Fragen, für das Thema. Manchmal können Worte erst nach einer gewissen Zeit formuliert werden. Sollten Auffälligkeiten im Verhalten des Kindes oder Jugendlichen über mehrere Wochen vorhanden bleiben und sich nicht abschwächen, ist es auf jeden Fall ratsam, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Was raten Sie Eltern im Umgang mit ihren Kindern nach einem Ereignis wie einem Amoklauf?
Burtscher-Kiene: Wie bei vielen Themen rate ich Eltern stets einen offenen Umgang. Sie sollten mit ihren Kindern (und das kann schon in jungen Jahren sein) das Gespräch suchen. Ihnen die Tür zu diesem Thema öffnen. Dabei bleibt der Blick bei den Kindern, um zu erkennen, wann ihnen das Thema zu viel ist. Wenn ich als Elternteil merke, dass es keine Fragen mehr gibt, oder das Kind aus der Situation gehen möchte, dann darf es jederzeit gehen. Es muss jedoch das Gefühl haben, dass es zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu diesem Thema zurückkehren darf. Sollten Eltern sich überfordert fühlen im Umgang mit einem traumatischen Erlebnis, rate ich ihnen, professionelle Hilfe zu suchen und darüber zu reden, wie sie das Gespräch mit ihren Kindern gestalten sollen.
Grundsätzlich ist es wichtig, dass Kinder die Möglichkeit bekommen, mit einer nahen Bezugsperson zu sprechen.
Wie kann bei Jugendlichen wieder ein Gefühl von Sicherheit entstehen, gerade in einem Umfeld, das plötzlich als potenziell gefährlich erlebt wird?
Burtscher-Kiene: Ich glaube wichtig ist, dass wir schauen, ob die Jugendlichen es wirklich so empfinden. Haben sie den Eindruck, dass das Umfeld potenziell gefährlich ist oder nehmen wir als Erwachsene dies bei den jungen Menschen an? Sollte die Sicherheit abhanden gekommen sein, können wir den Jugendlichen nur helfen, das Vertrauen wieder zu finden. Es ist auch hier wichtig, den Jugendlichen eine Gesprächsebene zu bieten, dass sie ihre Unsicherheiten formulieren können. So erkennen wir, ob wir ihnen konkrete Dinge in die Hand geben sollten, wie das Vorstellen des Sicherheitskonzepts der Schule oder einer Handlungsempfehlung, sollte es zu einem solchen Vorfall kommen. Die meisten Schulen haben Social Networker, Vertrauenslehrer oder Schulpsychologen, an die sich die Schüler zudem wenden sollen, wenn sie eigene Unsicherheiten bemerken, oder auch verändertes Verhalten bei Mitschülern.
Welche Rolle spielen soziale Medien bei der Verarbeitung? Sind sie eher hilfreich oder verstärken sie Angst und Unruhe?
Burtscher-Kiene: Welche Art der Unterstützung soziale Medien bei der Verarbeitung bieten, hängt stark von ihrer Nutzung ab. Sie können auf der einen Seite durchaus Stabilität vermitteln, weil sie informieren. Weil sich die jungen Menschen austauschen können. Auf der anderen Seite können sie Ängste schüren, Unruhe schaffen, weil sie Falschinformationen verbreiten können. Sie können die Jugendlichen aufwühlen, wenn sie Informationen erhalten, die sie nicht verarbeiten können, oder für die sie kein Gesprächsgegenüber haben.
Auch hier rate ich Eltern, Lehrern an, mit den Jugendlichen das Gespräch zu suchen. Ihnen die Gesprächs-Tür jederzeit offen zu halten und sie einzuladen, diese Möglichkeiten zu nutzen.
Wie gehen Sie im Gespräch mit betroffenen Jugendlichen auf deren Sorgen und Schuldgefühle ein? Zum Beispiel wenn sie sich fragen: „Hätte man das verhindern können?“
Burtscher-Kiene: Es ist wichtig zu unterscheiden, ob es sich um eine Sorge oder ein Schuldgefühl handelt. Denn ein Schuldgefühl besteht eher in der Frage „Hätte ICH das verhindern können?“. Der erste Impuls ist oft, diese Frage zu verneinen. Schuldgefühle sind jedoch nicht so einfach abzustellen. Es ist daher günstig, mit dem Jugendlichen einen genaueren Blick zu wagen. So sollte nachgefragt werden, wie er sich das vorstellen könnte. Welche Handlungen hätte er aus seiner Sicht setzen können, um ein Unglück zu verhindern? Dann werden diese Handlungen im Laufe eines Gesprächs eingeordnet. Geprüft, ob sie wirklich zu einer Verhinderung geführt hätte, und dies durch den Jugendlichen möglich gewesen wäre. Durch dieses Gespräch werden die Gefühle des Jugendlichen ernst genommen und nicht gleich verneint. Und dennoch wird gemeinsam erarbeitet, dieses Gefühl entsprechend einzuordnen und zu erkennen, dass – wie meistens in solchen Fällen – keine Schuld bei ihm liegt.
Mit der Sorge „Hätte man das verhindern können?“ kann ein ähnlicher Umgang gefunden werden. Ich bleibe mit dem Jugendlichen im Gespräch und frage nach, welche Ideen er hätte. Ich nehme seine Ideen ernst, betrachte sie. Ich gehe mit ihm aber auch auf den Weg der Erkenntnis, dass wir im Leben nicht jedes Unglück verhindern können. Das Leben besteht eben auch aus Unsicherheiten, aus Dingen, die wir nicht beeinflussen können. Vor dieser Tatsache können wir unsere Kinder nicht schützen. Aber wir können ihnen als Erwachsene vermitteln, dass wir für sie da sind. Dass wir sie darin unterstützen, auch mit Unsicherheiten umgehen zu lernen.
Zur Person
Veronika Burtscher-Kiene ist Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin und Notfallpsychologin. Seit vielen Jahren engagiert sie sich ehrenamtlich im Vorarlberger Kriseninterventionsteam (KIT). In ihrer Arbeit begleitet sie Menschen in akuten Belastungssituationen, darunter auch Kinder und Jugendliche nach traumatischen Ereignissen.