Blaßnig rechnet ab: “So setzt man das System auf’s Spiel”

Ärztekammer-Vizepräsident Hermann Blaßnig warnt im Gespräch mit der NEUE am Sonntag vor gravierenden Fehlentwicklungen im Spitalswesen.
Wenn Gesundheitslandesrätin Martina Rüscher ankündigt, man werde die geplante Spitalsstrukturreform „durchziehen, auch wenn es Wirbel gibt“, dann klingt das nach Entschlossenheit. Für Hermann Blaßnig, Vizepräsident der Ärztekammer Vorarlberg und Kurienobmann der angestellten Ärzte, ist das in der derzeitigen Lage jedoch ein riskantes Signal. Gegenüber der NEUE am Sonntag spricht er von einem blind geführten Veränderungsprozess ohne Zahlenbasis, von überhörten Warnungen aus der Ärzteschaft und kritisiert politische Strategien, die an der Realität vorbeigingen.
Keine Datengrundlage
Laut Blaßnig wurde die geplante Spitalsstrukturreform bislang ohne jede nachvollziehbare Datengrundlage geführt. Weder Berechnungen noch Szenarien seien präsentiert worden, weder den Betroffenen noch den beratenden Gremien. Dass ausgerechnet bei so tiefgreifenden Eingriffen auf fundierte Zahlen verzichtet werde, kritisiert Blaßnig als unverständlich und riskant. Der Veränderungsprozess sei in seiner jetzigen Form nicht kalkulierbar.
Das betreffe insbesondere die geplante Schwerpunktbildung in der Geburtshilfe. Dornbirn etwa zähle mit rund 2500 Geburten zu den größten Geburtskliniken Österreichs. Eine Zusammenlegung mit anderen Standorten müsse daher wohlüberlegt sein. Wie sich solche Schritte auf OP-Kapazitäten oder Pflegeverfügbarkeit in anderen Häusern auswirken, sei derzeit völlig offen. Schon heute seien mehrere OP-Säle nicht in Betrieb, weil es an Pflegekräften mangele.

Es fehlt an Personal
Die Idee, bestehende Strukturen zu bündeln, sei aus Sicht der Ärztekammer medizinisch grundsätzlich nachvollziehbar, aber nur unter klaren Bedingungen. Schon jetzt stoße das System an seine Grenzen, weil notwendiges Personal fehle. Blaßnig betont, dass es nicht reiche, zwei Abteilungen zu fusionieren und daraus automatisch mehr Stabilität zu erwarten. Ohne zusätzliche Ressourcen bleibe jede Umstrukturierung ein theoretisches Modell.
Am Beispiel Bludenz werde deutlich, wie fragil die bestehende Versorgung sei. Die dortige Geburtenstation könne nur mit erheblichem personellen Aufwand aufrechterhalten werden. Eine echte 24-Stunden-Bereitschaft sei kaum dauerhaft sicherzustellen, insbesondere weil es eine gleichzeitige Verfügbarkeit von Geburtshilfe, Gynäkologie und Pädiatrie brauche. Ob diese Dienste an anderen Standorten aufgefangen werden könnten, sei mehr als fraglich.
Veraltete Systeme
Die viel beschworene Digitalisierung bringe in der Praxis keine spürbare Entlastung, sondern zusätzlichen Aufwand. Dokumentation, Zertifizierungen und Qualitätssicherung nähmen weiter zu. Rund 40 Prozent der ärztlichen Arbeitszeit fließen laut Umfrage in administrative Tätigkeiten. Delegierbare Aufgaben könnten nur zum Teil abgegeben werden, vieles müsse direkt von den Ärzten erledigt werden.
Zudem seien die eingesetzten Krankenhausinformationssysteme oft veraltet. Weder in den Häusern der KHBG noch bei der Stadt Dornbirn arbeite man mit moderner Software, kritisiert Blaßnig. Systeme mit KI-gestützter Dokumentation oder automatisierter Berichtserstellung würden zwar existieren, stünden in Vorarlberg aber nicht zur Verfügung.

Schlechte Stimmung
Die Stimmung unter den Spitalsärzten beschreibt Blaßnig als angespannt. Dass fast 60 Prozent ihre Arbeit als belastender empfinden als noch vor fünf Jahren, sei ein klares Signal. Ursache sei die Verdichtung des Arbeitsalltags, wachsender Versorgungsdruck, fehlende Hausarztstrukturen und mangelnde Planungssicherheit. Wer das ignoriere, verschärfe die Lage weiter.
„Wenn dann die Politik signalisiert: Wir sehen den Bedarf, wollen aber trotzdem nichts tun, ist das nicht motivationsteigernd“, sagt Blaßnig. Noch weniger verständlich sei es, in dieser Situation eine tiefgreifende Spitalsreform auf den Weg zu bringen, ohne die Folgen realistisch durchzurechnen.
Betriebsvereinbarung als weitere Zeitbombe
Besonders brisant ist für Blaßnig die aktuelle Situation rund um die bestehende Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeitflexibilisierung. Nur durch diese Sonderregelung sei es rechtlich möglich, Dienste über das gesetzlich festgelegte Ausmaß hinaus abzuleisten. Diese Vereinbarung läuft jedoch mit Ende November aus. Eine Verlängerung ist bisher nicht fixiert. Sollte es hier zu keiner Einigung kommen, wäre der reguläre Dienstbetrieb in zahlreichen Abteilungen nicht mehr planbar. Blaßnig spricht von einem „Unruhefaktor par excellence“. Er fordert das Land auf, hier rasch auf die Ärztekammer zuzugehen, die Verhandlungsbereitschaft sei gegeben, die Tür stehe offen.
Vertrauen schwindet
Deutliche Kritik äußert Blaßnig außerdem auch an der politischen Steuerung des Gesundheitswesens. Die Ärztekammer sei über Jahre hinweg gezielt aus wichtigen Entscheidungsprozessen gedrängt worden. Die Einrichtung der Zielsteuerungskommissionen auf Bundes- und Landesebene habe dazu geführt, dass strategische Weichenstellungen ohne Beteiligung der Ärzteschaft getroffen würden. Diese Entwicklung sei kein Zufall, sondern Folge eines bewussten politischen Kalküls, die Standesvertretung kleinzuhalten.
Die Folge sei, dass Entscheidungen zu Versorgungspfaden, Strukturfragen oder Ressourcenzuweisungen häufig zu spät bekannt würden und keine Korrekturen mehr zuließen. Vertrauen in einen echten Dialog auf Augenhöhe sei unter diesen Voraussetzungen kaum noch möglich.

Mangelwirtschaft statt Vorsorge
Blaßnig spricht von einer schleichenden Mangelwirtschaft im Spitalswesen. Die Politik reagiere auf Druck, agiere aber nicht mehr strategisch. „Wer den Spitalsbetrieb nur noch aufrecht erhält, statt zu gestalten, verschärft langfristig die Probleme.“ Die Ärztekammer fordere daher klare Entscheidungen, aber auf fundierter Grundlage.
Es brauche realistische Szenarien, nachvollziehbare Berechnungen und den Mut zur offenen Diskussion. Statt eine gut klingende Reform auszurufen, die später nicht hält, was sie verspricht, müsse endlich ehrlich abgewogen werden: Welche Struktur ist langfristig tragfähig? Und was braucht es, damit Versorgungssicherheit auch 2035 oder 2040 noch gewährleistet ist?
Personalproblem
Der Grundirrtum der aktuellen Politik sei laut Blaßnig, zu glauben, mit baulichen und organisatorischen Maßnahmen das Personalproblem in den Griff zu bekommen. „Niemand kommt zurück an einen Standort, von dem er unzufrieden weggegangen ist, nur weil die Politik es jetzt für sinnvoll hält.“ Die Bewegungsfreiheit des Personals sei heute hoch und strukturelle Veränderungen könnten das sogar verschärfen.
Warnungen werden ignoriert
Besonders hart fällt Blaßnigs Urteil über die politische Kommunikation aus: Die Stimmen der Ärzte würden zwar gehört, aber nicht berücksichtigt. „Wenn langjährige Mitarbeitende im System warnen, dass geplante Veränderungen nicht tragbar seien, darf das nicht einfach ignoriert werden.“ Wer strukturelle Entscheidungen ohne Rückhalt derer treffe, die sie umsetzen müssen, setze das System aufs Spiel.