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Was mit Reinhold Bilgeri geschah, als er 1973 Auschwitz sah

10.12.2024 • 21:44 Uhr
Elmar Grabherrs Evolutionslehre
Der frühere Landesamtsdirektor Elmar Grabherr hielt nach dem Krieg an seinem Rassenwahn fest.Zehentmayr

Mit seinem neuen Roman „Das Gewissen der Tauben“ wirft Reinhold Bilgeri einen warnenden Blick auf das Nachleben des Nazismus.

„Ich musste den Schock meines Lebens verkraften“, erinnert sich Reinhold Bilgeri an das Jahr 1973 zurück. Mit Michael Köhlmeier und dessen Vater Wise begab er sich damals nach Auschwitz. Dort wanderten sie, konfrontiert mit der durch antisemitischen Massenwahn geleiteten industriellen Vernichtung von Menschen, jeweils allein von Baracke zu Baracke. Seitdem trägt der mittlerweile 74-Jährige den quälenden Wunsch mit sich, gegen eine Wiederholung des Schreckens anzuschreiben.

Auf dem Rattenpfad

Davon zeugt “Das Gewissen der Tauben“. Der Roman ist heuer, mehr als 50 Jahre nach der Besichtigung, erschienen, und lässt einen den Zorn des Autors deutlich spüren.

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Amalthea Signum Verlag

Die Autofiktion beginnt im Wien der späten 50er-Jahre und führt die Lesenden auf die Spur des Rattenpfads, der berüchtigten, von der katholischen Kirche organisierten Fluchtroute der Nazis nach Südamerika.
Protagonistin der Geschichte ist Gerda, die sich als Journalis­tin, junge Mutter und Tochter eines Deserteurs auf die Suche nach einem allzu persönlichen Grauen begibt.

Obwohl Hitler tot war

Bilgeri entwarf den Roman in konstanter Nachtarbeit. Dabei zog er nicht nur Fachliteratur zum NS-Regime und dessen Nachleben zurate, sondern auch seine eigene Lebens- und Familiengeschichte. Zentral stehen die Tagebücher seines Vaters Rudolf, der 1944 als Wehrmachtssoldat zu den griechischen Partisanen überlief. Nach dem Krieg fand sein Leid aber kein unmittelbares Ende. Denn bis 1947 musste der Gewissenhafte in einem britischen Lager für Kriegsgefangene in Ägypten ausharren. „Papa schrieb, dass die Hälfte der kriegsgefangenen Deutschen und Österreicher fanatisch für den Nazismus brannte, obwohl Hitler tot und der Krieg vorbei war. Wer nicht ihrer Meinung war, den haben sie niedergebrüllt oder umgebracht“, berichtet der Autor. So ist es verständlich, dass der Schreckensgezeichnete bevorzugt schwieg. Doch was er nicht sagen konnte, erzählen seine Aufzeichnungen. Ohne sie würde auch der Autor im Dunklen tappen.

Landkrimi, Treffpunkt, PK, pressegesprŠch, Alles Fleisch ist Gras, ORF, PrŠsentation des Filmes “Alles Fleisch ist Gras”, Im Rahmen der ORF-Landkrimi-Serie wird die Vorarlberger Produktion “Alles Fleisch ist Gras” mit Regisseur Reinhold Bilgeri und Drehbuchautor Christian MŠhr im Funkhaus vorgestellt.
“Papa schrieb, dass die Hälfte der kriegsgefangenen Deutschen und Österreicher fanatisch für den Nazismus brannte, obwohl Hitler tot und der Krieg vorbei war. Wer nicht ihrer Meinung war, den haben sie niedergebrüllt oder umgebracht”, Reinhold Bilgeri. Steurer

Verachtete Helden, geehrte Nazis

Weite Teile der Handlung spielen im Vorarlberg der Nachkriegszeit. Speziell Hohenems ist der Protagonistin als widersprüchlicher Sehnsuchtsort bekannt. Denn in der Stadt, in der einst eine blühende jüdische Gemeinde lebte, besaß ihr Vater ein kleines Haus. Diese Kapitel spiegeln die Jugend des 74-Jährigen wider, die zentral durch das historisch-informierte Werk strahlt. Etwa wenn Gerda klagt, dass der Schriftsteller Max Riccabona als Überlebender des KZ Dachau für seinen „Erinnerungsinfarkt“ verspottet und mit „Almosen abgespeist“ wird, während das Land Vorarlberg die Autorin und überzeugte Nationalsozialistin Natalie Beer großzügig fördert. Diese Gegenüberstellung setzt sich mit Elmar Grabherr und ­Jean Améry fort.

Erstgenannter war Mitglied der NSDAP und machte als Landesamtsdirektor Karriere. In dieser Funktion hielt er am völkischen Wahn der Nazis fest, wobei sein Versuch einer rassischen Rechtsdefinition des Vorarlbergers scheiterte.

Jean Amery und Leo Haffner
Jean Amery und Leo Haffner, 1977 in Dornbirn. Klapper

Améry hingegen wird von Bilgeri als Held verehrt. Der 1912 als Hans Mayer in Wien geborene Autor wuchs als Kind einer jüdischen Familie Hohenemser Abstammung auf. Als Folteropfer und Auschwitz-Überlebender beschrieb er sich als jemand, der nicht mehr heimisch wird in der Welt. Symbolisch verdeutlicht dies sein Namenswechsel zu Jean Améry, praktisch sein Selbstmord 1978. Ein Jahr zuvor nahm er in Dornbirn an einer Diskussion mit dem Kulturjournalisten Leo Haffner teil. „Wir sind danach die halbe Nacht bei Haffner auf dem Balkon gestanden und haben diskutiert. Améry war ein unheimlich zarter, lieber Mensch. Für uns war er ein intellektueller Gott, der in seinen Büchern das in seiner Seele wuchernde Unverständnis beschrieb, nachdem die Gesellschaft eine allgemeine Sicht der Katastrophe nicht zusammenbringt“, schwelgt der Autor in Erinnerungen, die ihn sichtlich prägten.

Angesichts des Rechtsrucks in der Politik kochen sie jetzt wieder in ihm hoch: „Mit dem Aufwind der FPÖ stellt sich erneut heraus, dass es nie einen kollektiven Konsens über den Zivilisationsbruch gab. Aber als Österreicher müssen wir in den Spiegel schauen und sehen: Wir sind ein Volk, das zwei Weltkriege zu verantworten hat.“

Wiederkehr des Faschismus?

Gleichzeitig bleibt es fraglich, wie die Vergangenheit vor den Gefahren der Zukunft warnen kann. Die Politik der Gegenwart kennt ­keine nennenswerte ­linke Kraft, die wie 1917 den Kapitalismus bedroht. Daher scheint es unwahrscheinlich, dass, wie in den 1920er-Jahren, antisemitische Mörderbanden von Industriellen bewaffnet werden. Vielmehr zeugt „Das Gewissen der Tauben“ von einer Generation, die daran zweifelt, ob sie wirklich die Beste aller möglichen Welten an ihre Nachkommen weitergeben wird.

Dass Bilgeri dennoch nicht aufgibt und trotz fortgeschrittenen Alters unaufhaltsam tätig bleibt, signalisiert sein Bestreben, die Geschichte mit seiner Tochter Laura zu verfilmen. „Im Moment plane ich das Drehbuch. Bald kommt es auch zu einem Treffen mit Produzenten. Die Geschichte wird aber eine junge Frau zeigen, die Fehler macht, auf Fehler draufkommt und sich entwickelt. An ihr bleibe ich so nah wie möglich“, berichtet der Regisseur vorfreudig.