„Ein herzliches Ja zum Pflegekind“

Claudia Hinteregger-Thoma arbeitet bei der Pflegekinderhilfe im Vorarlberger Kinderdorf. Im Interview spricht sie über ihre Aufgaben, die Herausforderungen für Pflegefamilien und was Kinder brauchen, um in einem neuen Zuhause anzukommen.
Was sind die Aufgaben der Pflegekinderhilfe beim Vorarlberger Kinderdorf?
Claudia Hinteregger-Thoma: Wir sind von der Kinder- und Jugendhilfe beauftragt, Kinder in Pflegefamilien zu vermitteln, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern oder in ihrem Herkunftssystem leben können. Für diese Kinder suchen wir Menschen, die die Elternrolle übernehmen.

Konkret?
Hinteregger-Thoma: Wir begleiten den gesamten Weg – vom ersten Bewerbungsgespräch mit potenziellen Pflegeeltern über die Vermittlung des Kindes bis hin zur laufenden Begleitung des Pflegeverhältnisses. Dieser Prozess beginnt mit dem ersten Kennenlernen und reicht bis zur gelungenen Integration des Kindes in die Pflegefamilie.
Was unterscheidet eine Pflegefamilie von einem Heim oder anderen betreuten Wohnformen?
Hinteregger-Thoma: Klassische Heime gibt es heute in dieser Form nicht mehr. Stattdessen sprechen wir von familiären sozialpädagogischen Kinderwohngruppen, in denen mehrere Kinder gemeinsam mit pädagogischem Fachpersonal leben. In einer Pflegefamilie hingegen wächst das Kind in einem familiären Umfeld auf. Pflegeeltern können individueller auf das Kind eingehen – die Betreuung ist persönlicher, die Einheiten sind kleiner, und die Integration ins soziale Umfeld – etwa in einer Gemeinde – gelingt oft leichter.

Was sind typische Gründe dafür, dass Kinder in Pflegefamilien untergebracht werden?
Hinteregger-Thoma: Der Hauptgrund ist, dass das Wohl des Kindes in der Herkunftsfamilie nicht mehr gesichert ist. Das stellt unser Auftraggeber, die Kinder- und Jugendhilfe, fest. Dabei kann es sich um psychische Erkrankungen der Eltern, Suchtprobleme, Gewalt in der Familie, Überforderung oder Vernachlässigung handeln. Manchmal kommen Eltern direkt zur Kinder- und Jugendhilfe: „Ich schaffe das nicht mehr – aber ich will, dass mein Kind gut aufwächst.“
Formen der pflege
Dauerpflege
Das Kind wird für einen längeren Zeitraum oder auf Dauer betreut.
Bereitschaftspflege
Kinder in Krisen wird ein vorübergehendes Zuhause geboten. Die Pflege dauert höchsten zwei Jahre.
Entlastungspflege
Der Lebensmittelpunkt des Kindes bleibt bei den Erziehungsberechtigten. Es geht darum, die Pflegepersonen (Herkunfts- oder Pflegefamilie) kurzzeitig zu entlasten.
Verwandten-, Netzwerkpflege
Für das Kind wird eine alternative Unterbringung bei Verwandten oder Menschen aus dem sozialen Umfeld gesucht.
Was brauchen Kinder und Jugendliche besonders, wenn sie in einer Pflegefamilie ankommen?
Hinteregger-Thoma: Das Wichtigste ist ein ehrliches, herzliches „Ja“ der Pflegefamilie zu diesem Kind. Die Aufnahme soll feinfühlig und respektvoll geschehen. Oft sind Pflegeeltern voller Motivation – während das Kind gerade eine schwierige Zeit hinter sich hat. Dann braucht es Zeit und Raum, um anzukommen. Ideal ist es, wenn Pflegeeltern auch eine wohlwollende Haltung gegenüber den leiblichen Eltern einnehmen. Es geht nicht darum, besser zu sein als die Herkunftsfamilie, sondern um ein respektvolles Miteinander. Das Kind trägt beide Lebenswelten in sich – und braucht Erwachsene, die das Kind verstehen und diesen Spagat mittragen.
Wer kann eine Pflegschaft übernehmen?
Hinteregger-Thoma: Voraussetzung ist ein einwandfreier Leumund. Wir schauen uns zudem die familiäre Ausgangssituation genau an: Gibt es genügend Platz? Wie stehen alle Familienmitglieder zur Pflegschaft? Wenn etwa nur eine Person ein Pflegekind möchte, der Partner oder die eigenen Kinder aber nicht einverstanden sind, ist das nicht tragbar. Es braucht die Bereitschaft, sich auf diese besondere Aufgabe einzulassen und regelmäßig mit der Kinder- und Jugendhilfe sowie mit uns in Kontakt zu stehen.

Können auch Einzelpersonen Pflegeeltern werden?
Ja. Pflegeeltern können Einzelpersonen, Paare, auch gleichgeschlechtliche Paare, sein.
Ist es schwierig, geeignete Pflegeeltern zu finden?
Hinteregger-Thoma: Ich bin seit Jänner 2024 in der Pflegekinderhilfe tätig – davor habe ich über 30 Jahre die Auffanggruppe des Vorarlberger Kinderdorfs geleitet. Mein Eindruck: Wir werden nicht überrannt, aber es gibt stetiges Interesse – das freut mich sehr. Vieles läuft über Mundpropaganda: Man kennt eine Pflegefamilie, kommt ins Gespräch. Auch unsere Informationsveranstaltungen sind hilfreich. Aktuell nehmen sechs Familien am Ausbildungskurs teil, der im April endet. Der nächste Kurs startet im Herbst – wir sind schon an der Vorbereitung dran.
Vorarlberger Kinderdorf
Das Vorarlberger Kinderdorf wurde 1951 von Hugo Kleinbrod gegründet und ist heute die größte Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung in Vorarlberg. Die Organisation bietet präventive, ambulante, teilstationäre und stationäre Unterstützungsangebote für rund 3000 Kinder und Jugendliche sowie deren Familien an. Neben dem Kinderdorf Kronhalde in Bregenz gibt es noch sieben Fachbereiche – darunter die Pflegekinderhilfe. Insgesamt beschäftigt das Kinderdorf über 320 Fachkräfte im ganzen Land. Im Mittelpunkt des Wirkens stehen Kinder und Jugendliche, deren körperliche, geistige, seelische und soziale Entwicklung beeinträchtigt oder gefährdet ist. Die Hilfestellungen orientieren sich an der individuellen Lebenswelt der Kinder und ihrer Familien. Wichtigster Auftraggeber ist das Land Vorarlberg (Landesregierung), konkret die damit betrauten Kinder- und Jugendhilfeabteilungen der Bezirkshauptmannschaften.
Wie werden Pflegeeltern auf ihre Aufgaben vorbereitet?
Hinteregger-Thoma: Am Anfang steht ein persönliches Informationsgespräch. Danach erhalten die Interessierten eine Bewerbungsmappe mit Unterlagen – inklusive Leumund-Anforderung und persönlichen Fragen. In mehreren Gesprächen setzen sich dann die zukünftigen Pflegeeltern mit ihrer Biografie, ihrer Kindheit, Beziehungsgeschichte und ihren Stärken auseinander. Dann folgen fünf thematisch strukturierte Kurstage – zu rechtlichen Grundlagen, Beziehungsdynamiken, Bindung und Biografie, Trauma und dem Umgang mit dem Kontaktrecht. Denn jedes Pflegekind hat das Recht auf Kontakt zu seinen leiblichen Eltern. Am Ende führen wir ein Abschlussgespräch. Erst dann können Pflegeeltern in unseren Pool aufgenommen werden. Wichtig: In jeder Phase können beide Seiten aussteigen – das schafft Klarheit und Entlastung.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit dem Land?
Hinteregger-Thoma: Gut. Die Politik weiß, was Pflegefamilien leisten. Was ich mir wünschen würde: mehr öffentliche Anerkennung. Derzeit leben 193 Kinder in Pflegefamilien – das ist eine große, aber oft stille Leistung, die diese Familien täglich meistern. Ohne diese Familien wären viele Plätze in Einrichtungen längst überfüllt. Pflegefamilien tragen wesentlich zum sozialen Frieden und zum Gelingen einer sozialen Stabilität bei.
Welche strukturellen Herausforderungen gibt es?
Hinteregger-Thoma: Die große Frage ist: Werden wir auch in Zukunft Menschen finden, die bereit sind, ein Pflegekind aufzunehmen? Der Druck auf Familien nimmt zu. Pflegeeltern erhalten zwar Pflegegeld, sind aber nicht angestellt – das bringt Unsicherheit, etwa in Bezug auf die Pension. Besonders Frauen laufen Gefahr, später in Altersarmut zu geraten. Ich finde, dass wir über neue Modelle nachdenken sollten.
Zahlen
193 Kinder sind aktuell in Vorarlberg in 152 Pflegefamilien, sieben davon in Bereitschaftspflege.
Was wünschen Sie sich persönlich für die kommenden Jahre?
Hinteregger-Thoma: Ich wünsche mir, dass der Wert der Pflegschaft weiter anerkannt und hochgehalten wird – für die Kinder, aber auch für unsere Gesellschaft. Und dass es uns gelingt, weiterhin Menschen für diese wertvolle Aufgabe zu gewinnen. Besonders am Herzen liegt mir, dass auch ältere Kinder in Pflegefamilien einen sicheren und stabilen Platz finden können. Denn jedes Kind ist es wert, dass wir engagiert und immer mit dem Blick auf seine Biografie die bestmöglichen Angebote schaffen.